So viele Kinder leiden seelisch
Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen stark zu, sagt Psychiater Michael Merl. Bereits ein Viertel aller Jugendlichen in Österreich ist davon betroffen
Warum darf ich nicht bei meiner Mama sein?", fragt der achtjährige Paul seine Betreuerin beim Zubettgehen. Der Bub war mit aggressivem und zerstörerischem Verhalten in der Schule aufgefallen und wurde deshalb mehrmals ins Krankenhaus gebracht. Die Kinder- und Jugendhilfe entschied schließlich, dass es für ihn besser sei, wenn er nicht mehr bei seiner Mutter wohnt.
Paul ist eines von 18 Kindern, die in drei heilpädagogischen Kindergruppen im Diakonie-Zentrum Spattstraße in Linz betreut werden. Was sie gemeinsam haben, erzählt der pädagogische Leiter Wolfgang Zinganell: "Es sind seelisch verletzte Kinder, die durch ihr Verhalten meist in der Schule, manchmal auch schon im Kindergarten auffallen. Dadurch sind viele von ihnen bereits von klein auf in einer Außenseiterposition. Sie haben Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung erlebt. Oft haben sie auch Trennungen erlebt von Menschen, die ihnen wichtig sind – durch Scheidung, Tod oder auch schwere Erkrankung, wodurch ein Elternteil einfach nicht mehr verfügbar war. Sie haben erlebt, dass die Beziehung zu ihren Eltern schwierig ist."
"Schwierige Situation" zuhause
Pauls Mutter Anita war erleichtert, als ihr Sohn in die Kindergruppe kam. Sie schaffte es nicht mehr mit ihm, und ihr neuer Lebenspartner hatte viele Konflikte mit dem auffälligen Buben. Zwei Jahre später beschreibt sie ihr Erleben: "Ich wusste damals einfach nicht mehr, wie ich mit Paul umgehen sollte und was mit ihm los war. Die Betreuerin ist wie eine Übersetzerin, sie kennt sich aus mit solchen Kindern. Heute verstehe ich, warum er oft so zornig war und was er braucht, um sich zu beruhigen. Paul ist gut aufgehoben. Mein Leben hat sich auch beruhigt. Die Kindergruppe ist auch für mich eine Hilfe. Unsere Beziehung ist besser. Ich freue mich, wenn er bald wieder bei mir wohnen kann."
Die Wunden seelischer Verletzungen bei Kindern zu heilen, braucht Zeit und fachgerechte Hilfe. Kinder brauchen jemanden, auf den sie sich verlassen und an dem sie sich orientieren können. Je früher die Behandlung beginnt, umso besser die Prognose für die Zukunft.
Sehr viele Eltern überfordert
Laut Kinder- und Jugendpsychiater Michael Merl nehmen seelische Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen stark zu. "Eltern vermitteln ihren Kindern nicht mehr ausreichend Stabilität und Sicherheit. Es fällt ihnen schwer, die Elternrolle zu übernehmen. Die Kinder werden zwar versorgt mit Essen, Konsumartikeln, Events und Fun-Aktivitäten, aber sie haben oft zu wenig Zeit für Beziehungsgestaltung. Soziale Medien lenken Eltern von der Beziehung zu ihren Kindern zusätzlich ab."
In den heilpädagogischen Kindergruppen passiert professionelles Krisenmanagement wie bei Paul. "Hier erleben seelisch verletzte Kinder heilsame Beziehungen. Hier erfahren Eltern Entlastung und erlernen einen neuen Zugang zu ihren Kindern."
Je weniger sich Paul um seine Mama Sorgen machte, umso weniger wurde auch sein Heimweh. Die Therapien, der geordnete Tagesablauf in der Gruppe und die Unterstützung beim Lernen gaben ihm Sicherheit und Halt. Geplant ist, dass Paul in vier Monaten wieder bei seiner Mama leben kann. Die Rückkehr wird behutsam vorbereitet, und auch danach wird die Familie begleitet und unterstützt. Bis dahin darf Paul seine Mama immer öfter am Wochenende besuchen.