Daniel Kehlmanns "Tyll": Ein zerrissener Narr in chaotischen Zeiten
Der deutsch-österreichische Autor hat einen lesenswerten historischen Roman geschrieben.
Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) ist ein kollektives Trauma, das wir mittlerweile erfolgreich verdrängt haben. Wie lange dieser verheerende Krieg im europäischen Gedächtnis präsent war, kann man der Literaturgeschichte entnehmen. Nicht nur betroffene Zeitgenossen wie Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der Schöpfer des "Simplicissimus", oder der Lyriker Andreas Gryphius machten in ihren Werken den Krieg zum Hauptthema. Jahrhundertelang warf das hemmungslose europäische Gemetzel seine langen Schatten, von Schillers Wallenstein-Trilogie bis zu Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder".
Daniel Kehlmann ist ein Meister jenes Neorealismus, der historische Faktenkenntnis mit literarischer Imagination so kunstvoll verknüpft, dass für uns Leser Erkenntnisgewinn und sinnliches Vergnügen an der Fiktion ineinander überlaufen. Ein ähnliches literarisches Verfahren, das "Die Vermessung der Welt" (2005) zum Bestseller gemacht hat, wendet Kehlmann auch in seinem neuen Roman an. Der Protagonist "Tyll" ist der legendäre Till Eulenspiegel (bzw. Dil Ulenspiegel), wobei sich Kehlmann die Freiheit nimmt, den Erzschelm vom vierzehnten Jahrhundert in das siebzehnte zu versetzen.
Aus den Fugen geratene Welt
Mythische Figuren, über deren Leben man wenig weiß, taugen als Projektionsflächen späterer Interpreten und verändern ihre Gestalt. Die Eulenspiegel-Figur ist im Laufe der Kulturgeschichte schon vieles gewesen, skurriler Narr, sprachbegabter Humorist, anarchistischer Querkopf, verharmloste Kinderbuch-Figur und anderes mehr. In Kehlmanns zerrissener Tyll-Variante spiegelt sich eine Welt, die völlig aus den Fugen der humanen Ordnung geraten ist, teils absurd, teils erbärmlich, gleichermaßen bösartig wie bemitleidenswert, oft grausam und grundsätzlich chaotisch. Der Krieg, ursprünglich durch Glaubenskonflikte entzündet, mutiert schnell zum offenen politischen Machtkampf. Die Interessen überlagern sich, werden undurchschaubar. Der Freund kann über Nacht zum Feind werden – und umgekehrt. Obendrein werden die Gehirne immer noch durch Aberglaube und Magie beherrscht, nicht durch die zaghaften Anfänge naturwissenschaftlicher Nüchternheit und durch humane Vernunft. Kehlmann konfrontiert seinen Tyll mit historischem Personal, unter anderem mit dem glücklosen "Winterkönig" Friedrich von der Pfalz und dessen englischer Gattin, mit dem Gelehrten Athanasius Kircher, mit der Literaturszene des 17. Jahrhunderts, denn auch das ist Thema des Romans "Tyll", die Frage nach der Erzählbarkeit der Welt. Österreichs Erzählprominenz beweist derzeit eindrucksvoll, was traditionelle Romanformen auch in unserer Welt und für unsere Zeit zu leisten vermögen. Robert Menasse wurde kürzlich für seinen großartigen Zeit- und Gesellschaftsroman "Die Hauptstadt" mit dem Deutschen Buchpreis gewürdigt, Daniel Kehlmann bereichert die Gegenwartsliteratur mit einem lesenswerten historischen Roman.
Daniel Kehlmann: "Tyll". Roman, Rowohlt Verlag, 474 Seiten, 23, 90 Euro
OÖN Bewertung:
Bestsellerautor Daniel Kehlmann über...
... die Figur Till Eulenspiegel
„Ich wollte über den Dreißigjährigen Krieg schreiben, über diese chaotische, schreckliche, wilde Epoche. Da kam mir die Idee, Till Eulenspiegel als roten Faden zu verwenden. Das Schöne ist, wenn man es mit einem Gaukler, einem Narren zu tun hat, dann gibt einem der implizit die Erlaubnis, es mit den Dingen nicht so genau zu nehmen.“
...die Aktualität seines Buches
„Dass ich überhaupt angefangen habe, mich mit der Zeit der Religionskriege zu beschäftigen, hatte natürlich zu tun mit dieser schrecklichen Wiederkehr der Religionen als zerstörerische Mächte, die wir zurzeit erleben. Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass ich an einem aktuellen Buch arbeite, aber so etwas kann und darf künstlerisch nie die vorrangige Absicht sein.“
...seine Lesegewohnheiten
„Ich mag Science Fiction und auch Krimis, und ,Game of Thrones‘ finde ich auch sehr packend – aber eher als Konsument.“
Zu menasse eine interessante Betrachtung:
http://www.pressreader.com/austria/kronen-zeitung/20171022/282136406652944
Schon gelesen, ein tolles Buch!
Welches jetzt, das von Kehlmann oder das von Menasse?