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Joe Biden – der Tröster der Nation

Von Thomas Spang, 21. August 2020, 00:04 Uhr
Joe Biden – der Tröster der Nation
Joe Biden mit seiner zweiten Ehefrau Jill – seine erste Frau starb bei einem tragischen Unfall zu Weihnachten 1972. Bild: REUTERS

WASHINGTON. Der 77 Jahre alte US-Demokrat versteht, was Trauer und persönlicher Verlust bedeuten. Diese Erfahrungen machen ihn inmitten der Corona-Pandemie zum idealen Präsidentschaftskandidaten.

An einem eiskalten Tag Ende Dezember 2014 ist der damalige US-Vizepräsident plötzlich vor der Tür der Familie Liu in Brooklyn gestanden. Ohne Kameras und Presse stattete Joe Biden der Witwe des ermordeten Polizisten Wenjian und dessen Eltern einen privaten Kondolenzbesuch ab. Er wisse, wie es ihr gehe, versuchte der weißhaarige Politiker die junge Witwe zu trösten, die kürzlich erst geheiratet hatte. Er schaute ihr tief in die Augen und legte die Hand auf ihre Schulter. Auch für die Eltern fand er die richtigen Worte: "Kein Kind sollte vor seinen Eltern sterben. Mein Herz schmerzt für Sie."

Bevor er sich verabschiedete, überreichte Joe Biden der Witwe seine private Telefonnummer. "Rufen Sie mich an, wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen." Manchmal sei es leichter, mit Fremden zu sprechen, die dasselbe durchgemacht hätten. "Greifen Sie einfach zum Hörer", sagte er.

US-POLITICS-VOTE-DEMOCRATS
Bild: AFP

Persönliche Tragödien

Liu ist nicht die einzige Trauernde, die Bidens Privatnummer hat. "Onkel Joe" hat sie nach eigenem Zeugnis einer langen Liste an Fremden gegeben, denen er sich in ihrem Verlust verbunden fühlt. Er teilte sie am Rande von Beerdigungen, bei persönlichen Begegnungen nach öffentlichen Auftritten oder bei seinen Pendelfahrten mit dem Zug zwischen Washington und Wilmington (Delaware) aus.

Im März hätte Biden seine private Telefonnummer fast im Fernsehen ausgeplaudert, als er die Angehörigen von Corona-Opfern einlud, mit ihm in Kontakt zu treten. "Nicht weil ich ein Experte bin, sondern weil ich es selbst erlebt habe."

Tatsächlich ist die knapp vier Jahrzehnte lange politische Laufbahn des Präsidentschaftskandidaten der US-Demokraten eine Abfolge persönlicher Tragödien. Statt Weihnachten 1972 im Kreis seiner Familie die Wahl zum jüngsten Senator in der Geschichte zu feiern, trauerte der damals 29-jährige "Kennedy aus Wilmington" um seine erste Frau Neilia und die einjährige Tochter Naomi. Ehefrau und Tochter waren nach dem Einkauf des Christbaums mit einem Lkw zusammengestoßen. Seine beiden Söhne Beau (3) und Hunter (2) überlebten den Unfall schwer verletzt.

Pendler mit dem Zug

Freunde überredeten Biden, nicht alles hinzuschmeißen, sondern sein Amt anzutreten und es für ein halbes Jahr zu versuchen. "Meine Zukunft bestand darin, mich darauf zu konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen", erinnerte er sich in seinen ersten Memoiren, die 2007 unter dem Titel "Promises to Keep" erschienen. Biden legte seinen Amtseid am Spitalsbett seines Sohnes Beau ab.

Um abends bei seinen Kindern zu sein, entschied sich der Senator, nicht nach Washington zu übersiedeln, sondern jeden Tag die 90 Minuten mit dem Amtrak-Zug nach Wilmington zu pendeln. Eine Routine, die er beibehielt, nachdem er seine zweite Frau, die Lehrerin Jill Jacobs, 1977 heiratete.

Barack Obamas Vizepräsident

Der aus kleinen Verhältnissen in Scranton im US-Bundesstaat Pennsylvania stammende Politiker fiel nie dadurch auf, leidenschaftlich für ein bestimmtes Programm zu stehen. Sein Pragmatismus brachte ihn eher dazu, Kompromisse zu suchen. Das unscharfe Profil half Biden bei seinen ersten beiden Anläufen auf die Präsidentschaft 1988 und 2008 nicht. Der erste scheiterte an einem Plagiatsvorwurf, der zweite an einem jungen Hoffnungsträger. Barack Obama erkannte in Biden allerdings einen Seelenverwandten und machte ihn zu seinem Vizepräsidenten.

Wie der Beginn seiner Laufbahn fast an einer persönlichen Tragödie scheiterte, setzte eine weitere ihr fast das Ende. Die Rede ist vom Tod seines Sohnes Beau, der 2015 an einem Gehirntumor starb. In tiefer Trauer überließ Biden daher Hillary Clinton 2016 den Vortritt zur Präsidentschaftskandidatur.

Experte für Trauerarbeit

Bei den diesjährigen Vorwahlen sah zunächst alles danach aus, als ob Biden chancenlos sei. Der wegen seiner Neigung zur Flapsigkeit als "Fettnapf-Maschine" bekannte Politiker verplapperte sich mehr als früher, wirkte müder und fahriger. Der Ausbruch der Corona-Pandemie und der Beginn der Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus rückten dann eine Seite Bidens ins Blickfeld der Amerikaner, die schon immer da war. Der vom Schicksal geprüfte Kandidat ist ein Experte für Trauerarbeit, der sich aufgrund eigener Erfahrung gut in das Leid anderer einfühlen kann.

Die USA sind eine Nation, die trauert. Um die vielleicht 200.000 Menschen, die bis zum Wahltag am 3. November der Pandemie zum Opfer gefallen sein dürften. Um den Schwarzen George Floyd, der unter dem Knie eines weißen Polizisten ums Leben kam. Um den Verlust von Anstand und demokratischer Kultur, seit Donald Trump 2016 ins Weiße Haus einzog.

Die Sehnsucht der Wähler nach einem Tröster der Nation, einem Heiler und Versöhner ist in diesem Moment größer als die nach einer Lichtgestalt. Als die USA Ende Mai die Marke von 100.000 Corona-Toten überschritten, richtete sich Biden wie in einer Ansprache aus dem Oval Office an die Angehörigen, um mit der Nation die Trauer über den unnötigen Verlust an Menschenleben zu teilen.

Ein "Tröster-in-Chief"

Bidens Motto, wonach alle Politik persönlich sei, klingt nach einer Erfolgsformel gegen einen Präsidenten, dem jede Empathie in der Krise fehlt. Einfühlen in das Leid anderer kann sich der vom Schicksal so oft geprüfte Biden wie kaum ein Zweiter, weshalb er während seiner politischen Laufbahn ein gefragter Trauerredner war. Mehr als 60 Mal sprach er über Menschen, die ihm oder für die Nation wichtig waren.

Das Menschliche hinter dem Politischen zu sehen, ist eine Konsequenz aus seiner persönlichen Erfahrung, zu der Biden stets zurückkehrt. Seine Bestimmung in dieser Zeit des nationalen Trauerns um die Opfer der Pandemie und der Polizeigewalt könnte die des "Trösters-in-Chief" sein. Ein anständiger Mensch, der ein bisschen Nostalgie und viel Normalität verspricht.

Das trifft auch auf die internationalen Beziehungen zu, für die sich der frühere Vorsitzende des Auswärtigen Komitees im Senat stets starkgemacht hat. Hier gilt es, unter den alten Verbündeten so etwas wie Trauerarbeit über den Beinahe-Verlust des transatlantischen Partners zu leisten.

Der erprobte Kandidat muss nicht das Klischee des Supermanns erfüllen, der nachts um drei Uhr Anrufe im Oval Office entgegennimmt, um Amerika sicher zu machen. Sein nächtlicher Anruf könnte von Fremden wie der Witwe Sanny Liu oder den vielen anderen Menschen kommen, denen Biden in der Stunde der Not seine Privatnummer hinterlassen hat.

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Autor
Thomas Spang
US-Korrespondent
Thomas Spang

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1  Kommentar
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mitreden (28.669 Kommentare)
am 21.08.2020 16:46

Hoffentlich tröstet er auch den Spang, der Witwentröster.

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