Tot sind immer die anderen. Ihrer gedenken wir, ihretwegen trauern wir. Wenn wir in einem Naheverhältnis zu ihnen standen, dann suchen wir einen Friedhof auf, jenen Ort, an dem zu Allerheiligen ritualisiert der Toten gedacht wird. Einmal im Jahr, wenn selbst die Blätter der Trauerweiden blass zu Boden fallen, erinnern wir uns jener Menschen, die uns vorausgegangen sind, einmal am Ende des Jahres, das sollte reichen.
Dabei sterben die anderen ohne Pause. Täglich lesen wir von Drohnen und Raketen, Hunger, Femiziden und Umweltzerstörung, auch von Menschen, die eines natürlichen Todes friedlich entschlafen. Das Sterben ist allgegenwärtig, nichts scheint so lebendig wie der Tod. Nur, er betrifft immer die anderen, wir selbst blicken aus einer vermeintlich gesicherten Distanz auf die ach so fernen Ereignisse und versuchen damit klar zu kommen: gleichgültig, manchmal auch protestierend, wenn das Sterben einer anonymen Masse fremder Länder gilt, mit Tränen und dumpfem Schweigen, wenn es Freunde und Verwandte unvermittelt trifft.
Die vorliegende Zeitungsbeilage mit dem Titel „Abschied nehmen“ möchte Sie auf all das vorbereiten, was nach dem Tod eines anderen ins Rollen kommt. Der schwierige, aber vor allem befremdliche Begriff Tod, Verursacher der Bitternis, wird weichgewaschen und kommt in flauschigen Gewändern wie „neues Leben“ zu Ihnen ins Wohnzimmer. Bilder von Erdhügeln werden zum Blumenmeer, Porträts der Verstorbenen ersetzt durch liebliche Engerl, Särge werden zu schrulligen Gefäßen, selbst ganze Friedhöfe zu Wäldern „gewellnesst“, um Wohlbefinden zu suggerieren. Das sind verständliche Strategien, um den ersten Schmerz zu dämpfen, wenn es darum geht, den Verlust des anderen zu mildern. Was aber passiert danach? Womit wird die Leere der langen Wochen, Monate und Jahre nach dem Abschied gefüllt?
Ich schreibe diesen Text im Auftrag von Steinmetzen. Ihre Arbeit soll hier nüchtern vorgestellt werden. Steinmetze sind Handwerker, die sich seit Jahrtausenden mit jenem Material auseinandersetzen, das keiner Vergänglichkeit unterworfen ist. „Granit ist ewig“, sagt man, schauen Sie sich Pyramiden, Gotteshäuser, antike Tempel, auch alte Friedhöfe an, sie sind noch immer da. Deshalb bearbeiten Steinmetze Steine, auch Grabsteine, denn die darin gravierten Erinnerungszeichen verweisen auf die Lebensgeschichte einer einzelnen Person für eine lange Dauer. Ein Stein ist da, hier und jetzt und immer, er trotzt jedem Anflug von Trauer, er ist resilient und überdauert die Zeiten. Steinmetze, die das über Generationen hinweg verinnerlicht haben, vermitteln diese Gewissheit. Sie bieten etwas an, das mehr ist als bloße Dekoration, das nachhaltiger ist als ein Nummernschild an einem Baumstamm: ein Grab als Präsenz des Abwesenden, ein analoges, handfestes Zeichen, ein unübersehbarer Fixpunkt innerhalb eines Friedhofs. Zugegeben, die naturromantische Idee eines Friedwaldes hat etwas an sich, auch die irreführende Faszination von der Auflösung der Existenz im vermeintlichen Nichts, sie verdrängt den Tod und das Erinnern letzten Endes aber doch nur ins Abseits.
Ein guter Steinmetz wird Ihnen daher nicht billiges Material anbieten, sondern mit Ihrem Zutun die angesprochene Leere nach und nach bereichern: mit Geschichten über den Verstorbenen, mit Würde, Vertrauen und Anteilnahme, die sich am Ende des Prozesses in einem Grabstein manifestieren. Eine gute Steinmetzin versucht die Fratze des Todes nicht zu leugnen, sondern ihr ein Gesicht zu geben.
Norbert Kienesberger, Landesinnungsmeister Oberösterreichs, erzählt mir, dass die Nachfrage nach personenbezogenen Grabsteinen wieder größer werde. Die Leute würden spüren, dass „der Schmerz ihrer Trauer während der gemeinsamen Erarbeitung eines Erinnerungszeichens eine Art Heilung erfährt“. Sieht man sich die Liste an Grabmalpreisen an, Auszeichnungen, die alle zwei Jahre vom „Steinzentrum Hallein“ vergeben werden, dann finden sich an vordester Stelle oberösterreichische Steinmetze, die hier eine Vorreiterrolle einnehmen und bemüht sind, den Friedhof neu zu denken. Für die Konzeption dieses öffentlichen Trauerorts bieten sie zeitgemäße Lösungen an.
Eine Auswahl jener Steinmetze wird Sie im Rahmen der Landesgartenschau Schärding, die im Frühjahr 2025 öffnet, in einen Skulpturenpark führen, der mit steinernen Formen des Erinnerns experimentiert. „Ins Ich“, lautet der Titel, Selbstdarstellungen und Selbsttechniken sind Thema, kurz gesagt: Es geht um das Festschreiben des eigenen Ichs in Stein. Sie werden dort erfreulicherweise (!) keine Grabsteine finden, aber die Übung ist klar umrissen: Um die anderen entsprechend porträtieren zu können, müssen Fragen nach dem Darstellen von Erinnerung zuallererst an sich selbst gerichtet sein: Wie ist mein Ich konstituiert? Gibt es tatsächlich einen Selbst-Kern, wie kann ich diesen dekonstruieren?
An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Tot sind immer die anderen, stimmt, aber je höher meine Selbstkenntnis ist, umso besser gelingt es mir möglicherweise, die anderen nicht nur zu achten, sondern wie im Fall von Steinmetzen auch abzubilden. „Zeichne deinen Nächsten wie dich selbst“, könnte man in Anlehnung an die zentrale Botschaft des Christentums sagen. Dann sehen wir den Tod des anderen ehrlicher und auch versöhnlicher, bevor er schließlich zur Selbsterfahrung wird.