"Viele Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie denken, dass sie dumm sind oder sich nicht genug anstrengen. Das stimmt aber nicht. Es handelt sich um eine Lernstörung, die man in den Griff bekommen kann."
Stefan Reiner,
Lerntherapeut (FiL), Autor
Besteht durch diese Aufmerksamkeit die Gefahr, zu schnell eine – vielleicht falsche – Diagnose zu stellen?
Zum Teil. Es gibt die Situation, dass Kinder von der Schule zum Kinderpsychiater oder Schulpsychologen geschickt werden, weil sie verhaltensauffällig sind. Man erhofft sich zum Beispiel von Psychopharmaka, dass das Kind wieder angepasst am Unterricht teilnehmen kann. Es gibt aber auch die Situationen, in denen man zu lange wartet. Rechenschwache Mädchen sind zum Beispiel still, schüchtern und intelligent. Mit Tricks wie Fingerrechnen unter dem Tisch verheimlichen sie ihre Rechenschwäche oder auch Dyskalkulie. Dann wird es oft zu spät entdeckt.
Warum ist es wichtig, dass Lernstörungen früh erkannt werden?
Es ist sinnvoll, Lernstörungen zu erkennen, bevor das Kind psychisch schon völlig frustriert in die Schule geht oder sogar Neurosen entwickelt. So kann man frühzeitig und einfacher helfen. Allerdings sollte auch das Kind bereit sein, sich helfen zu lassen. Hat es keinen Leidensdruck, ist eine Therapie nicht sinnvoll.
Traut man Kindern mit einer Lernstörung zu wenig zu?
Es kommen viele Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie zu mir, deren Selbstwertgefühl sehr niedrig ist, weil ihnen nur vermittelt wird, was sie alles nicht können. Liegt Legasthenie oder Dyskalkulie vor, weiß man aber, dass dieses Kind zumindest durchschnittlich intelligent ist, und das sollte man vermitteln. Eltern und Pädagogen sollten immer auch auf die Stärken eines Kindes hinweisen. Denn diese Kinder haben häufig mehr Fantasie als andere, können gut in Bildern denken, aber nicht so gut formulieren und niederschreiben. Sie haben ihre Stärken häufig in der rechten, bildhaften Gehirnhälfte und das kann berücksichtigt werden. Es gibt auch viele berühmte Persönlichkeiten, die eine schwere Schulzeit hatten, aber in der Berufswelt ihr Potenzial entfalten konnten.
Ein großes Thema ist aktuell das Distance Learning. Wären Kinder mit Lernschwierigkeiten in der Schule besser aufgehoben?
Das lässt sich wohl nur individuell beantworten. Ich habe einen Schüler, der ist sehr selbstständig, den stressen die vielen Kontakte und die vielen Sinneseindrücke in der Schule. Er kommt mit dem Online-Unterricht gut klar. Andere brauchen die menschliche Begegnung zum Lehrer. Wenn die Eltern nicht die Möglichkeit haben, das Kind richtig zu begleiten, rutscht es unter Umständen durch das Netz.
Elternratgeber: Jedes Kind kann Schule
Stefan Reiner ist ein vom deutschen Fachverband für integrative Lerntherapie (FiL) qualifizierter Lerntherapeut, Lehrer, Dozent in der Lerntherapie-Ausbildung und Vater. In über 25 Jahren hat er viele Erfahrungen mit Schülern gesammelt, die unter Lernstörungen (z. B. Legasthenie, Dyskalkulie, ADHS) und abgemilderten Lernschwächen (z. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche, Konzentrationsschwierigkeiten) leiden, und Methoden entwickelt, ihnen das Lernen zu erleichtern.
Mit seinem Buch gibt er Eltern einen Ratgeber mit umfangreichen Hintergrundwissen und vielen praktischen Tipps in die Hand. Anhand von Checklisten können Ursachen ergründet und die individuell richtige Lernmethode gefunden werden. Zudem bietet die Analyse eine Grundlage für die Entscheidung, ob professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden soll.
Zusätzlich hat der Autor auch ein Online-Portal entwickelt, auf dem in ähnlicher Weise eine Analyse durchgeführt werden kann: www.lerntherapie-muenchen.de/neu-onlineberatung
Jedes Kind kann Schule – Ganzheitliche Hilfe bei Legasthenie, Dyskalkulie, Prüfungsangst, Konzentrationsproblemen und ADHS, Stefan Reiner, GU-Verlag, 208 Seiten, 17,50 Euro, ISBN: 978-3-8338-7586-1