Irlands goldene Mitte
DUBLIN. Den Begriff Hidden Heartlands hat die Tourismuswerbung für Irlands Mitte geprägt, die zwar herzlich ist, aber bisweilen übersehen wird. An guten Gründen, sich zwischen den Küsten herumzutreiben, mangelt es jedenfalls nicht
Die Mitte hat es schwer, wenn an den Rändern die Extreme locken: im Westen die reizvolle Küste, an der sich vom rauen Donegal bis zur klimatisch milden Halbinsel Kerry der wilde Atlantik abgearbeitet hat; im Osten die pulsierende, kulturell gesegnete irische Hauptstadt Dublin und das angrenzende County Wicklow mit dem ausladenden Gebirgszug und den paradiesischen Gärten. Dazwischen macht sich eine Mitte breit, die von Besuchern der Grünen Insel gerne übersehen wird. Dabei ist die Mitte durchaus eine goldene, die sich nicht hinter dem um Touristen buhlenden Begriff "Hidden Heartlands" verstecken muss, wie eine Auswahl an Verborgenem belegt, das es zu entdecken gilt.
Belvedere House: Die bemerkenswerte Architektur des an einem See gelegenen, in eine üppige Gartenlandschaft eingebetteten Herrenhauses ist das eine. Das andere, noch Anziehendere, sind die eigenartigen Menschen, die das aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammende Anwesen mit Leben erfüllten. Robert Rochfort, dem 1. Earl of Belvedere, diente es als Jagdschloss. Der Spitzname "Wicked Earl" (niederträchtiger Graf) kam nicht von ungefähr. Er verdächtigte seine zweite Frau Mary – bei der Heirat war sie 16, er 28 – aufgrund von Gerüchten eines Gspusis mit seinem Bruder Arthur und ließ sie für 31 Jahre im früheren Familienwohnsitz einsperren. Arthur, zu einer Geldstrafe verurteilt, die er nicht bezahlen konnte, landete im Gefängnis, wo er starb. Der von Eifersucht und Missgunst zerfressene Earl mochte auch seinen zweiten Bruder George nicht leiden, der im benachbarten Haus wohnte. Davon zeugt noch heute die sogenannte "Jealous Wall" (eifersüchtige Wand), die Robert als gotische Ruine mitten im Park errichten ließ, um George die Aussicht zu vermiesen und sich dessen Ansicht zu ersparen.
Faszinierend sind die Lebenslinien, die ein späterer Besitzer des Belvedere House hinterlassen hat. Charles Howard-Bury (1883–1963), Soldat, Botaniker, Großwildjäger, Entdecker und Bergsteiger, brachte von seinen zahlreichen Reisen – unter anderem drang er 1905 ins verbotene Tibet vor – Pflanzen mit, die den Garten bereicherten. 1921 führte der ehe- und kinderlose Abenteurer die britische Erkundungsexpedition an, die Routen auf den Gipfel des Mount Everest auskundschaften sollte. Dabei stieß er in großer Höhe auf Fußabdrücke, die Sherpas, die ihn begleiteten, als Spuren des Yetis erklärten.
Kilbeggan Distillery: Der hoch aufragende Ziegelschlot weist im Städtchen Kilbeggan den Weg zur Quelle, aus der das "Wasser des Lebens" fließt. Irlands älteste lizenzierte Whiskey-Brennerei reicht bis ins Jahr 1757 zurück. 200 Jahre später blieben die Maischbottiche leer, die Gärbottiche trocken, die Brau- und Kupferkessel kalt. Anfang der 1980er Jahre nahmen sich die örtlichen Bewohner ihres historischen Erbes an, restaurierten und richteten ein Whiskey-Museum ein. 2007 übernahm die Cooley Distillery die Lizenz, befeuerte die Brennerei und installierte Kupferkessel von 1800, die nunmehr die älteste funktionierende Destillieranlage weltweit ergeben. Den Gaumen final mit Verkostungsschlückchen zu benetzen, gehört dazu, wiewohl die geführte Rundtour alles andere als trocken anmutet.
Sean’s Bar: Irisches Lebensgefühl berührt in einer legendären Ausschank in Athlone. Das Guinness Buch der Rekorde führt Sean’s Bar als ältestes Pub der Grünen Insel. Als Beleg dienten selbst geprägte Münzen und altes Mauerwerk einer Gaststätte, die bei Restaurierungsarbeiten zum Vorschein kamen und aus der Zeit um das Jahr 900 stammen. Selbst wenn es Schusterbuben regnete, hieße es hier, dass es ein "lovely day" für das flüssige Brot namens Guinness wäre. Wie in unzähligen anderen Tränken der Republik rotten sich Musikanten zu virtuosen Rudeln zusammen. Fiedeln, Tin Whistles und Quetschen füllen den Raum mit traditionellen Rhythmen, an Hadern wie "Dirty Old Town" oder der Moritat von "Molly Malone" kommt kaum eine Session vorbei.
Clonmacnoise: Dass in Athlone Tourschinakel ablegen, die wie eine billige Kopie von Booten der Wikinger aussehen, liegt in längst vergangenen Zeiten begründet. Anfang des 9. Jahrhunderts fielen die plündernden Horden aus dem Norden ein, auf ihren Raubzügen segelten sie auf dem Shannon ins Landesinnere. Unschiffbare Stromschnellen zwangen die Wikinger, ihre Schiffe durch Athlone zu tragen. Eine Viking Tour führt heute auf dem Fluss zur frühchristlichen Klosteranlage von Clonmacnoise. Die Mitte des 6. Jahrhunderts gegründete Niederlassung entwickelte sich zum blühenden geistlichen, geistigen und kulturellen Zentrum. Für das weitläufige ruinöse Antlitz sind Feuersbrünste, Wikinger, Normannen und letztlich die Engländer unter ihrem zerstörerischen Heerführer Oliver Cromwell verantwortlich. Es hat etwas Mystisches, zwischen den Resten der Kathedrale, zweier Rundtürme, kleiner Kirchen, Grabplatten und Kreuzen herumzustreifen. Imposant ragen drei bis zu vier Meter große Hochkreuze mit ihren in Sandstein gemeißelten Verzierungen empor. Es sind Kopien – die geschützten Originale bestaunt man im kleinen Besucherzentrum von Clonmacnoise.
Birr Castle Demesne: Tragödie und Erfolg liegen im Städtchen Birr nah beieinander. Am 31. August 1869 endete eine Landpartie tödlich: Die achtfache Mutter und verehrte Wissenschafterin Mary Ward stürzte als Mitfahrende vor den plötzlich hüpfenden, im Schritttempo dahinzuckelnden Dampfwagen, der von ihrem auf Birr Castle residierenden Cousin aus der Parsons-Dynastie konstruiert und von seinen Söhnen begleitet worden war. Die 42-Jährige gilt als erste bei einem Unfall getötete Passagierin in der Geschichte des Kraftfahrzeugverkehrs.
Besagter Cousin, William Parsons, 3. Earl of Rosse, heimste als Techniker und Astronom Ruhm ein. Im Park des Anwesens ließ er 1845 ein gigantisches Teleskop fertigstellen, damals das größte auf Erden. Das "Leviathan" getaufte, 17 Meter lange Fernrohr mit 183 Zentimetern Durchmesser und einem 3,8 Tonnen schweren Spiegel erlaubte tiefe Blicke ins All, die dem Earl die Augen für die Spiralstruktur von Galaxien öffneten.
Das Schloss, Wohnsitz der siebten Generation, bleibt der Öffentlichkeit verwehrt. Ein kleines Museum widmet sich der astronomischen und botanischen Geschichte, der weitläufige Garten mit dem monströsen Weltraumgucker befriedigt lustwandelnde Besucher.
Irish Workhouse: In Portumna taucht man in ein düsteres irisches Kapitel ein: das von 1840 bis 1920 bestehende System der Arbeitshäuser, von denen es in dieser Zeit 163 im ganzen Land gab. Sie dienten als Sammelbecken für die Ärmsten, die – nach Alter und Geschlecht getrennt – für Kost und Logis schuften mussten. Familien wurden auseinandergerissen, miserable hygienische Zustände förderten die Ausbreitung von Krankheiten. Die Anlagen wurden streng geführt, die Insassen fühlten sich mehr in einem Gefängnis denn in einer wohltätigen Zuflucht. Mit der großen Hungersnot, die 1845 ausbrach, als ein Pilz die Kartoffelernte vernichtete, verschärfte sich das Elend. Eine Million Menschen starben, zwei Millionen wanderten aus. Letzteres befürworteten auch die englischen Landlords, denen die Versorgung der Armenhäuser oblag. Sie lockten mit Geld zur Überfahrt nach Amerika, weil ihnen dies billiger kam. Viele überlebten die Reise nicht, weshalb man von "Sargschiffen" sprach. Das Workhouse Centre in Portumna ist eines von drei Arbeitshäusern, die noch zu besichtigen sind – auch Wohlstandsverwöhnten dringend ans Herz gelegt!
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