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Zum Nachdenken in stiller Ernsthaftigkeit

Von Wilhelm M. Donko, 27. Juli 2019, 00:04 Uhr
Zum Nachdenken in stiller Ernsthaftigkeit
Ein Blick, den auch der Denker in seiner Abgeschiedenheit genoss. Bild: Donko

Im norwegischen 300-Seelen-Dorf Skjolden rückte das originale Denker-Häuschen von Ludwig Wittgenstein wieder an seinen ursprünglichen Platz in der Einsamkeit. Für Anhänger des in Linz zur Schule gegangenen Philosophen wird es zweifellos zur Pilgerstätte.

Der Sognefjord ist der längste und zugleich tiefste Fjord Norwegens. Majestätisch in jeder Hinsicht. Skjolden (sprich Scholden) liegt am äußersten Ende des Fjordes, mehr als 200 Kilometer vom offenen Meer entfernt, umrahmt von steilen, großartigen Bergen. Der Name kommt vom Wort Schild – abgeschirmt ist der Ort, abgelegen, im Winter nur schwer erreichbar. Seit Jahrzehnten kommen Wissenschafter, Studenten, Wittgenstein-Jünger und Touristen aus aller Welt hierher und suchen etwas, das es lange Zeit gar nicht mehr gab, zumindest nicht am richtigen Ort: das Haus, in dem der berühmteste westliche Philosoph des 20. Jahrhunderts gelebt, gedacht und geschrieben hat. Die Einheimischen nennen den Ort schlicht Østerrike, also Österreich.

Ludwig Wittgenstein wurde am 26. April 1889 in Wien geboren. Er entstammte einer früh assimilierten deutsch-jüdischen Familie und wuchs katholisch auf. Sein Vater Karl wurde 1847 als sechstes von elf Kindern in Sachsen geboren. Karl arbeitete in verschiedenen Berufen, übersiedelte nach Wien, handelte auch mit Immobilien und machte in der Gründerzeit eine märchenhafte Karriere in der österreichischen Eisen- und Stahlindustrie, die vorwiegend in Böhmen beheimatet war. Die Familie wird oft als die zweitreichste der Donaumonarchie bezeichnet, nur übertroffen von den Rothschilds.

Zum Nachdenken in stiller Ernsthaftigkeit
Der Philosoph (1889-1951) Bild: ÖNB

Mit Leopoldine Kallmus, einer begabten Pianistin, hatte er acht Kinder; Ludwig war das jüngste. Sein Elternhaus in Wien, das Palais Wittgenstein, wird als "Familienpalast" beschrieben, sieben große Pianos standen dort, alle Kinder musizierten. Die Wiener Elite aus Kunst und Kultur ging hier ein und aus, alle Zimmer waren von purem Luxus geprägt.

Geld allein macht nicht glücklich

Ohne diesen österreichischen Hintergrund ist das Haus in Skjolden nicht erklärbar. Wenn es eines Beweises für die philosophische Volksweisheit bedürfte, dass Geld allein nicht glücklich macht – die Wittgensteins verkörpern ihn. Vater Karl, der das Prinzip der Rationalisierung erfolgreich, aber auch emotionslos und mit sozialer Härte in der Stahlindustrie einführte, konnte seinen durchwegs hochbegabten Kindern keine menschliche Wärme vermitteln. Auch die Mutter war dafür zu schwach.

Karl starb 1913 und Ludwig erbte ein gigantisches Vermögen. Dieser, zeitweise von Depressionen geplagt, konnte nichts damit anfangen. Anfangs stiftete er größere Geldbeträge für verschiedene Künstler, aber bald übertrug er sein ganzes Vermögen den Geschwistern. Drei seiner fünf Brüder begingen später Selbstmord. Ludwig suchte einen Platz zum Nachdenken in stiller Ernsthaftigkeit. Er fand ihn 1913 im norwegischen Skjolden. Er konstruierte selbst ein Haus aus Holz, 59 Quadratmeter groß, das er zusammen mit seinem damaligen Geliebten bewohnte, um dort an einem System der Logik zu arbeiten. Aber Skjolden war ihm noch nicht abgelegen genug. Direkt hinter dem Ort beginnt ein kleiner See, der Eidsvatnet, dahinter erhebt sich ein steiler Fels. Dort, hoch über dem See, war der Ort für Ludwig Wittgenstein, sein Østerrike. Hier konnte er ungestört denken, hier baute er sein Haus, in das er bis zu seinem Tod immer wieder zurückkehren sollte. Die längste Aufenthaltsperiode betrug 13 Monate, wichtige Teile seines Werkes entstanden hier. Und er wollte eigentlich kurz vor seinem Lebensende wieder zurück nach Skjolden, erlag aber am 29. April 1951 in Cambridge seinem Krebsleiden; dort ist er auch begraben.

Zum Nachdenken in stiller Ernsthaftigkeit
Wieder am ursprünglichen Platz: das Wittgenstein-Haus in Skjolden Bild: Donko

Das Haus am Fels mutet eher an wie eine Hütte. Die Bewohner von Skjolden ließen ihn gewähren, störten seine Wege nicht. Einmal die Woche stieg er vom Fels herunter, ruderte über den See in den Ort und kaufte Brot und das Allernotwendigste. Wenn es selbst ihm zu viel wurde oder es im Winter allzu kalt war, verbrachte er ein paar Tage im Ort. Sein Zimmer in einem Haus, beim Eide-Hof gelegen, ist noch heute zu besichtigen bzw. sogar zur Übernachtung anzumieten.

Als er starb, vermachte er sein Haus einem Einheimischen. Da es sehr solide gebaut war, aber an einem so schwer zugänglichen Ort stand, ließ dieser es 1958 abbauen. Die Balken und Dachschindeln wurden im Winter zum zugefrorenen See hinuntergebracht und mit Schlitten in den Ort transportiert. Dort wurde das Haus neu aufgestellt.

Kaum ein Philosoph hatte nach seinem Tod eine derart solide Fan-Gemeinde wie Wittgenstein. Jahr für Jahr kamen sie nach Skjolden und suchten Østerrike. Sie fanden nur noch ein Fundament auf dem Fels und im Ort ein gewöhnliches Häuschen, das außen mit hässlichen Wetterkacheln versehen war. Den Bewohnern in Skjolden wurde mehr und mehr bewusst, dass ihr Ort längst einen festen Platz auf der Weltkarte der Philosophiegeschichte erlangt hatte. In den 1980er-Jahren erschienen lokal erste Artikel über Wittgensteins Aufenthalt in Skjolden, mit Augenzeugenberichten. Seit 1991 veranstaltete die Universität Bergen Wittgenstein-Seminare im Raum Skjolden. 1994 erschien in der größten norwegischen Tageszeitung "Aftenposten" ein umfangreicher Artikel, mehrere Initiativen zum Rückbau des Hauses verliefen jedoch im Sand.

Alle Fenster gefunden

Um 2010 stand das Wittgenstein-Haus zum Verkauf. Nun begannen ernsthafte Aktivitäten, dieses einzigartige Bauwerk nicht nur zu erhalten, sondern wieder an seinen alten Ort zurückzubringen. Die Finanzierung war das größte Problem. Im Juni 2014 wurde die lokale Wittgenstein-Stiftung formal gegründet, der es gelang, genug Geld zu sammeln, um das Haus zu kaufen und es an dem schwierigen Platz neu aufzubauen, auch unter Einsatz zahlreicher Hubschrauberflüge.

Viele originale Bauteile des Hauses, zum Beispiel die alten Fenster, konnten noch im Ort aufgefunden werden, man geht davon aus, dass 90 Prozent des ursprünglichen Bestandes für den Neuaufbau herangezogen werden konnten. Als Geldgeber beteiligten sich lokale Banken, Firmen und Institutionen, die für Denkmalschutz zuständigen Behörden des Landes, aber auch Privatpersonen aus aller Welt. Ein Beitrag mit Österreichbezug kam von OMV Norge und auch die Österreichische Botschaft Oslo unterstützte das Projekt.

Beim Denken gestört

Zur Neueröffnung kam Sveinung Rotevatn, Staatssekretär im Ministerium für Klima und Umweltschutz, in alter Wittgenstein-Tradition im Ruderboot direkt aus Skjolden. Die Festgäste quälten sich dann zu Fuß den sehr steilen und engen Pfad hinauf. Rotevatn erzählte in seiner Rede die Anekdote, wonach ein Wanderer einst ungefragt zum Hause hochgestiegen war und von Wittgenstein unwirsch angefahren wurde, dass er jetzt wieder zwei Wochen Zeit brauchen werde, um an jener Stelle weiterzudenken, an der er von ihm gestört worden sei.

Der aus Schärding stammende Autor ist seit 2017 Botschafter der Republik Österreich im Königreich Norwegen.

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1  Kommentar
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observer (22.672 Kommentare)
am 27.07.2019 11:04

Wenn ich das so lese, wie sein Leben abgelaufen ist, dann bekomme ich den Eindruck, dass er wohl ein sehr unglücklicher Mensch gewesen sein muss. Seine Schriften kenne ich allerdings nicht, aus der nicht so ganz entfernten Zeit haben mir Kant und Nietzsche gereicht.

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