"Das tägliche Massaker des Hungers": Zieglers Rede zur Eröffnung des Brucknerfestes
Soziologe, Politiker und Autor Jean Ziegler hielt am Sonntag im Linzer Brucknerhaus die Festrede mit dem Titel "Das tägliche Massaker des Hungers – wo ist Hoffnung?". Seine Rede im Wortlaut.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für die große Ehre, die mir zuteilwird, zur Eröffnung des Internationalen Brucknerfestes Linz 2022 die Festrede halten zu dürfen.
Das vorgegebene Thema lautet: „Visionen“. Im Einladungsbrief der Brucknerfest-Intendanz werde ich gebeten, ich zitiere, „über ein selbstgewähltes, gleichwohl mit dem Festivalmotto ‚Visionen‘ in Zusammenhang stehendes Thema zu sprechen“.
Meine Vision ist eine Welt ohne Hunger. Das tägliche Massaker, das der Hunger an vielen Tausenden von Menschen auf einem Planeten verübt, der vor Reichtum überquillt, ist der absolute Skandal unserer Zeit.
Das Recht auf Nahrung, wie es sich aus Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ergibt, ist folgendermaßen definiert:
„Das Recht auf Nahrung ist das Recht, unmittelbar oder durch finanzielle Mittel einen regelmäßigen, dauerhaften und freien Zugang zu einer qualitativ und quantitativ ausreichenden Nahrung zu haben, die den kulturellen Traditionen des Volkes entspricht, dem der Verbraucher angehört, und die ein physisches und psychisches, individuelles und kollektives, befriedigendes und menschenwürdiges Leben ermöglicht, das frei ist von Angst.“
Von allen Menschenrechten ist das Recht auf Nahrung dasjenige, welches auf unserem Planeten sicherlich am häufigsten, am zynischsten und am brutalsten verletzt wird. Der Hunger ist ein organisiertes Verbrechen.
In der Bibel steht im Buch Jesus Sirach zu lesen: „Der Arme hat nichts zum Leben als ein wenig Brot; wer ihn darum bringt, ist ein Mörder. Wer seinem Nächsten die Nahrung nimmt, der tötet ihn. Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund“ (Sir 34,25–27).
Es mag überraschend, ja erstaunlich anmuten, in der wunderschönen, wohlhabenden und florierenden Stadt Linz über den Hunger zu sprechen.
In den von Marthe Robert herausgegebenen Notizen Franz Kafkas findet sich der rätselhafte Satz: „Fern, fern von dir geschieht die Geschichte der Welt, die Weltgeschichte deiner Seele.“
Und bei Immanuel Kant heißt es: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“
Was uns von den Opfern trennt, ist nur der zufällige Ort unserer Geburt.
Sie kennen die Opferzahlen. Sie werden alljährlich von der Food and Agriculture Organization, kurz FAO, der Spezialorganisation der UNO für Ernährung und Landwirtschaft, veröffentlicht. Laut den Zahlen für 2021 stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Seit 2021 sind weltweit 874 Millionen Menschen permanent schwerstens unterernährt. Alle vier Minuten erblindet ein Mensch infolge von Vitamin-A-Mangel.
Die Menschheit verliert jedes Jahr ungefähr ein Prozent ihrer Substanz. Jährlich verlassen rund 70 Millionen Menschen unseren Planeten, wenn man alle Todesursachen, also Kriege, Krankheiten, Seuchen, Naturkatastrophen etc., zusammennimmt. 2021 sind von knapp 71 Millionen gestorbenen Menschen 14 Prozent verhungert. Auf einem Planeten von unermesslichem Reichtum bleiben Hunger und die durch ihn ausgelösten Krankheiten wie das Hungerödem Kwashiorkor oder der Wangenbrand Noma sowie eine durch Unterernährung hervorgerufene Immunschwäche immer noch die weitaus häufigsten Todesursachen.
Der Fluch des Hungers vererbt sich von Generation zu Generation. Bei den ärmsten Völkern der südlichen Hemisphäre gebären Millionen chronisch unterernährter Mütter Millionen unterernährter Kinder. Régis Debray nennt sie „Gekreuzigte von Geburt an“.
Die pränatale Unterernährung führt zu Invalidität. In Schwarzafrika sterben Jahr für Jahr rund 500 000 Mütter bei der Geburt, und zwar wegen schweren Nahrungsmittelmangels während der Schwangerschaft. In Mali können nur knapp 25 Prozent der Mütter ihren Säugling stillen, denn eine permanente Unterernährung macht die Produktion von Muttermilch unmöglich. In den allermeisten Fällen fehlt den Müttern jedoch das Geld, um Milchpulver zu kaufen.
Ich bin in der mittelalterlichen Kleinstadt Thun im Berner Oberland aufgewachsen, in einer bürgerlichen, calvinistischen Familie. Mein Vater war Gerichtspräsident. Wie die allermeisten Angehörigen dieses Milieus – und wohl auch die Mehrzahl der Zuhörerinnen und Zuhörer in diesem Saal – habe ich geglaubt, dass der Hungertod dem langsamen, beinahe friedlichen Verlöschen einer Kerze gleiche.
Das ist ein Irrtum. Die am Ende des Verhungerns stehende Agonie, der ich als UN-Sonderberichterstatter in der Sierra von Jocotán in Guatemala, in den Jurten verelendeter Nomadenfamilien in der Mongolei oder in den stinkenden Favelas von São Paulo in Brasilien begegnet bin, ist eine der fürchterlichsten und schmerzhaftesten Todesarten, die es gibt.
Wenn Menschen arbeiten, sich bewegen, denken, sogar träumen, verbrauchen sie Lebensenergie. Diese wird gemessen in sogenannten Kilokalorien. Die verlorene Lebensenergie muss in regelmäßigen Abständen durch feste und/oder flüssige Nahrung ersetzt werden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bedeuten in mildem Klima und bei moderater Arbeitsintensität 2 200 Kalorien pro Tag das Existenzminimum für einen erwachsenen Menschen.
Von seltenen Ausnahmen abgesehen, kann ein Mensch normalerweise drei Minuten leben, ohne zu atmen, drei Tage, ohne zu trinken, drei Wochen, ohne zu essen. Mehr nicht. Dann beginnt der körperliche Verfall.
Bei unterernährten Kindern kündigt sich der Todeskampf sehr viel früher an. Zunächst verbraucht der Körper seine Reserven an Zucker und dann an Fett. Die Kinder werden lethargisch. Sie verlieren rasch an Gewicht. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Wie kleine Tiere rollen sie sich im Staub zusammen. Ihre Arme baumeln kraftlos am Körper. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod.
Beim Menschen bilden sich die Gehirnzellen bis zum fünften Lebensjahr. Erhält das Kind während dieser Zeit keine angemessene, ausreichende und regelmäßige Nahrung, bleibt es sein Leben lang ein Krüppel.
Die Opferzahlen, welche die FAO in ihrem jährlichen Bericht, genannt The State of Food Security and Nutrition in the World, errechnet, werden von niemandem bestritten.
Die FAO sagt aber auch, dass die weltweite Landwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung ihrer Produktionskräfte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also gut 4 Milliarden mehr als aktuell auf der Erde leben.
Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts sind Menschen aus Tirol, der Bretagne und dem Piemont ausgewandert, um jenseits des Meeres Nahrung und ein menschenwürdiges Leben zu suchen.
Karl Marx war knapp fünfundsechzig Jahre alt, als er am frühen Nachmittag des 14. März 1883 im einzigen Fauteuil seiner armseligen Wohnung in der Maitland Park Road Nr. 41 in London friedlich starb. Bis zu seinem letzten Atemzug hatte er geglaubt, dass die vorhandenen Güter niemals ausreichen würden, um die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Er war überzeugt, dass das verfluchte Paar aus Herr und Knecht, die miteinander um die knappen Güter kämpfen, die Menschheit noch über Jahrhunderte begleiten würde. Seine Theorie des „objektiven Mangels“ begründet seine Thesen über den Klassenkampf, die internationale Arbeitsteilung und die epiphänomenale Natur des Staates.
Marx hat sich geirrt. Seit seinem Tod hat die Menschheit eine eindrückliche Zahl industrieller, technologischer und elektronischer Revolutionen erlebt, die ihre Produktionskräfte massiv erhöht hat.
Der „objektive Mangel“ ist verschwunden.
Hunger ist menschengemacht und kann morgen von Menschen aus der Welt geschafft werden. Es gibt keine Fatalität des Hungers. Ein Kind, das verhungert, jetzt, in dem Moment, in dem ich zu Ihnen spreche, wird ermordet.
Das universelle Menschenrecht auf Nahrung ist für Hunderte Millionen von Menschen eine Fiktion. Nicht das Völkerrecht, nicht die normative globale Rechtsstaatlichkeit, sondern der Markt entscheidet über die Verteilung der Nahrung.
Der regelmäßige, freie Zugang zu qualitativ und quantitativ ausreichender Nahrung hängt allein von der Kaufkraft der Konsumentin oder des Konsumenten ab.
Wer Geld hat, isst und lebt. Wer keines hat, hungert, leidet und stirbt.
Warren Buffett, damals der viertreichste Mann der Welt, erklärte 2006 gegenüber der New York Times: „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“
Laut einer Statistik der Weltbank von 2021 haben im vorvergangenen Jahr die fünfhundert größten transkontinentalen Konzerne (alle Sparten, Industrie, Finanzen, Handel, Dienstleistungen etc., zusammengenommen) 52,2 Prozent des Weltbruttosozialproduktes, also aller in einem Jahr produzierten Reichtümer, kontrolliert. Sie sind jeder staatlichen, gewerkschaftlichen oder sozialgesellschaftlichen Kontrolle entzogen. Sie können sehr viel und kreieren in beeindruckender Vitalität immer neue Güter. Sie beherrschen das Wissen ebenso wie den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Sie haben eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, König oder Papst besessen hat. Die Weltdiktatur der Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals zwingt ihre Gesetze selbst den mächtigsten Staaten auf.
Die möglichst hohe Profitmaximierung, in möglichst kurzer Zeit und zu beinahe jedem menschlichen Preis, ist die Strategie dieser Kosmokraten. Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung.
Betrachten wir für einen Moment die Struktur des Nahrungsmittelweltmarktes: Heute kontrollieren die zweihundert größten Konzerne der Agrarindustrie rund ein Viertel der globalen Lebensmittelerzeugung. In der Regel erwirtschaften diese Unternehmen astronomische Gewinne und verfügen über weit größere Finanzmittel als die meisten Staaten, in denen sie ihren Sitz haben. De facto haben sie ein Monopol auf die gesamte Nahrungskette, angefangen bei der Erzeugung über den Transport, die Silohaltung, die Verarbeitung und Vermarktung bis hin zum Einzelvertrieb der Produkte.
Die Giganten der Lebensmittelindustrie kontrollieren nicht nur die Preisbildung und den Handel der Nahrungsmittel, sondern auch wichtige Bereiche der Agroindustrie, vor allem Saatgut, Dünger, Pestizide, Lagerung, Transport und so fort.
Lediglich zehn Unternehmen – darunter Aventis, Bayer, Pioneer und Syngenta – beherrschen ein Drittel des Saatgutmarktes, dessen Umsatz mit 23 Milliarden Dollar im Jahr beziffert wird, und 80 Prozent des Pestizidmarktes, dessen Umsatz man für 2021 auf 28 Milliarden Dollar schätzt.
Fünf Unternehmen teilen 77 Prozent des Düngermarktes unter sich auf: Bayer, Syngenta, BASF, Cargill und DuPont.
Dieselben Marktpotentaten bestimmen im Wesentlichen auch über Transport, Versicherung und Vertrieb der Nahrungserzeugnisse. An den Börsen für Agrarrohstoffe setzen ihre Trader die Preise für die wichtigsten Nahrungsmittel fest.
Die Kosmokraten beherrschen den Lebensmittelmarkt.
Ihre Ideologie ist eine neoliberale Wahnidee: die totale Befreiung und Selbstregierung des Marktes. Die Konzernmogule und ihre Kommunikationsfritzen hassen das universelle Menschenrecht auf Nahrung. Nur der total und von jeder Norm befreite Markt wird ihrer Meinung nach den Hunger besiegen.
Jean-Paul Sartre schreibt: „Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“ Das entscheidende Wort ist „was“, nicht „wer“!
Ob ein Kosmokrat böswillig ist oder nicht, ist irrelevant. Manche Kosmokraten sind schreckliche Gesellen, denen man nicht nachts im dunklen Wald begegnen möchte. Andere, wie zum Beispiel Peter Brabeck-Letmathe, geboren in Villach, Kärnten, langjähriger CEO und Verwaltungsratspräsident von Nestlé, dem weltgrößten Nahrungsmittelkonzern, sind hoch- anständige Menschen. Aber wenn Brabeck-Letmathe den Aktienkurs seines Konzerns nicht jedes Jahr um 10 oder 15 Prozent in die Höhe jagt, ist er nicht mehr lange Verwaltungsratspräsident von Nestlé.
Es geht um die strukturelle Gewalt des monopolkapitalistischen Herrschaftssystems, nicht um die Psychologie der Täter.
Das Paradox ist: Die Stadien der Agonie sind immer dieselben, die Ursachen für den Hungertod sind dagegen vielfältig und verschieden. Gestorben wird überall auf dieselbe Weise, aber aus immer anderen Gründen, auf die ich noch zurückkommen werde.
Die UNO unterscheidet zwischen strukturellem und konjunkturellem Hunger. Der konjunkturelle Hunger ist der Hunger, der ausbricht und die Menschen tötet, wenn in einem Land durch Krieg, Naturkatastrophen, Heuschreckenplagen etc. die gesamte Wirtschaft zusammenbricht, wenn niemand mehr säen oder ernten kann oder Zugang zu importierten Hilfsgütern findet. Der strukturelle Hunger, der jährlich noch sehr viel mehr Menschenleben fordert als die weithin sichtbaren Hungersnöte, wird auch „the hidden hunger“, der „unsichtbare Hunger“, genannt. Er ist impliziert in den ungenügend entwickelten Produktionskräften eines Landes.
Die Ursachen des strukturellen Hungers sind komplex. Sie kumulieren und überschneiden sich. Ich betrachte hier nur einige der hauptsächlichsten Ursachen: Die erste ist die kumulierte staatliche Auslandsschuld der Länder des Südens (ausgenommen die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die am 31. Dezember 2021 die Marke von 3,1 Billionen Dollar überstieg.
37 der 54 Staaten Afrikas sind praktisch reine Agrarstaaten. Die meisten unter ihnen weisen eine niedrige Produktivität auf. Nehmen wir ein Beispiel: Während eines normalen Jahres ohne Krieg, Trockenheit, Überschwemmung, Heuschreckenplage etc., und diese normalen Jahre sind außerordentlich selten, erwirtschaften die Bäuerinnen und Bauern der sieben Staaten der Sahelzone (Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad und Sudan) pro Hektar durchschnittlich 600 bis 700 Kilogramm Getreide, während es in Tirol, Baden- Württemberg oder der Po-Ebene 10 000 Kilogramm pro Hektar sind. Dies nicht, weil in Europa Landwirtschaft Treibende so viel kompetenter und arbeitsamer wären, sondern weil der von der Auslandsschuld erdrückte afrikanische Staat seinen Bäuerinnen und Bauern weder Pflanzenschutzmittel noch mineralischen Dünger, weder Agrarkredite noch künstliche Bewässerung, weder mechanische Zugkraft (gerade einmal 85 000 Traktoren gab es 2021 auf dem gesamten afrikanischen Kontinent!) noch Silos zur Aufbewahrung der Ernte zur Verfügung stellen kann.
Eine andere Ursache: Die hochmechanisierte europäische Landwirtschaft krankt an einer permanenten Überproduktion. Um das Preisniveau im Binnenmarkt zu halten, exportiert die Europäische Union ihre Überproduktion zu Billigstpreisen in die Länder der südlichen Hemisphäre. Der größte, bunteste, lärmigste westafrikanische Markt ist der Sandaga-Markt in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Dort kann man französisches Geflügel, spanisches Obst, griechisches Gemüse und österreichische Kartoffeln für die Hälfte oder sogar nur ein Drittel 8 9 des Preises kaufen, den gleichwertige afrikanische Produkte kosten. Und ein paar Kilometer weiter steht der senegalesische Bauer mit seiner Familie in der brennenden Sonne, rackert sich ab und hat nicht die geringste Chance, auch nur auf das Existenzminimum zu kommen. Der Hunger quält ihn und seine Kinder.
Die dritte Ursache: Grundnahrungsmittel wie Reis, Getreide und Mais, die 75 Prozent des Weltkonsums decken, werden an der Börse gehandelt wie jede andere Ware auch. Die Nahrungsmittel- und Finanzkonzerne erzielen astronomische Spekulationsgewinne und treiben die Weltmarktpreise an der Chicago Mercantile Exchange in die Höhe. In den Kanisterstädten von Manila auf den Philippinen, den Slums von Dhaka in Bangladesch und den Favelas von Brasilien können infolgedessen die Mütter mit ihrem wenigen Geld immer weniger Nahrung für ihre Kinder kaufen.
Eine weitere Ursache ist der Landraub. Durch langfristige Mietverträge, durch Korruption und manipulierte Bodenpreise kaufen Finanzkonzerne Ackerland in der Dritten Welt auf. Sie pflanzen dort Blumen, Gemüse und Früchte für den Export in die Industrienationen an. Die Bäuerinnen und Bauern werden verjagt in die Elendssiedlungen der Großstädte, wo sie in den Abgrund des Hungers stürzen. Im Jahr 2021 haben Kosmokraten auf diese Weise allein in Schwarzafrika 43 Millionen Hektar Nutzfläche erbeutet.
September 2022: Wir stehen an der Schwelle fürchterlicher Hungersnöte in Afrika, dem Mittleren Osten und Asien. Hauptverantwortlich dafür ist der Vernichtungskrieg, den der Massenmörder Putin in der Ukraine, dem drittgrößten Getreideexporteur der Welt, führt. Unmittelbare Folgen dieses Krieges sind rasante Steigerungen der Preise von Weizen, Roggen, Mais, Gerste, Hirse, aber auch von Düngemitteln und Pflanzenölen; der Zusammenbruch der ukrainischen Produktion; die Vernichtung der bestehenden ukrainischen Inlandsvorräte durch die russischen Aggressoren; die Verminung und Zerstörung der Produktionsstätten und Felder; die Verhinderung des Exports des ukrainischen Getreides durch die Blockierung der ukrainischen Schwarzmeerhäfen durch russische Kriegsschiffe.
Juli 2022: Zwischen 20 und 25 Millionen Tonnen Getreide sind in den ukrainischen Silos blockiert. Sie stammen noch aus der Ernte von 2021 und hätten spätestens im Februar 2022 exportiert werden sollen. Jetzt verrotten sie. Seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar vermint und beschießt das russische Militär systematisch die Felder und landwirtschaftlichen Betriebe. Die ukrainischen Bäuerinnen und Bauern können nur unter extrem schwierigen Bedingungen ihrer Arbeit nachgehen. Die ab Ende September erwartete Ernte wird vom ukrainischen Landwirtschaftsministerium auf rund 19,2 Millionen Tonnen geschätzt, das heißt, sie wird um 40 Prozent geringer ausfallen als die Ernte von 2021.
95 Prozent der ukrainischen Getreideexporte wurden bisher über das Schwarze Meer verschifft. Kiew versucht nun, neue Ausfuhrrouten zu finden. Verhandlungen mit Rumänien sind im Gange. Über den Hafen von Constanta könnten wichtige ukrainische Exporte abgewickelt werden. Per Eisenbahn und mit Frachtbooten auf der Donau ließe sich das ukrainische Getreide ebenfalls transportieren. Ein Problem besteht allerdings: Die Spurweite des ukrainischen und rumänischen Schienennetzes ist verschieden. Die Transporte sind nicht zuletzt deswegen umständlich, langsam und sündhaft teuer. Bis Anfang Juli wurden denn auch lediglich 625 000 Tonnen exportiert.
Kiew führt intensive Verhandlungen mit der türkischen Regierung. Das ‚türkische Projekt‘ sieht die Schaffung von Nahrungsmittelkorridoren im Schwarzen Meer vor. Türkische Kriegsschiffe würden ukrainische Frachtboote, deren Ladung zuvor im Hafen von Odessa von UNBeamten kontrolliert worden wäre, bis ins Mittelmeer begleiten. Ich schreibe diesen Text, bevor ein Ende der Verhandlungen in Sicht ist.
Der Food Price Index der FAO misst den durchschnittlichen jährlichen Marktpreis einer gewissen Anzahl von Grundnahrungsmitteln. Dieser Index ist seit kurzem um 32 Prozent gestiegen. Natürlich ist der Vernichtungskrieg des Massenmörders Putin in der Ukraine nicht allein schuld an der katastrophalen Preislage. Andere, sekundäre Elemente sind gleichfalls zu erwähnen: Seit der ersten Juliwoche 2022 haben 20 Staaten 32 Grundnahrungsmittel vom Export ausgeschlossen. Die Maßnahme betrifft rund ein Fünftel aller auf der Welt ausgetauschten Kalorien.
Besonders einschneidend sind das Getreideembargo Indiens und das Palmölexportverbot von Indonesien. Argentinien reduziert zudem den Fleischexport, Iran den Export von Kartoffeln. All diese Maßnahmen treiben die Weltmarktpreise in die Höhe, schützen aber die Völker der Embargostaaten vor Mangel im eigenen Land.
Ein weiteres Element ist die Klimakrise: Auf dem afrikanischen Kontinent ist bereits ein Drittel des Bodens sogenannter Trockenboden (terre aride). Als Trockenboden bezeichnet man eine Fläche, auf die im Jahr weniger als 250 Millimeter Regen pro Quadratmeter fallen. Landwirtschaftlicher Anbau ist dann nicht mehr ohne künstliche Bewässerung möglich. Nur 3,5 Prozent der afrikanischen Ackerfläche werden jedoch künstlich bewässert. Auf allen anderen Feldern wird Regenlandwirtschaft betrieben, ganz so wie vor 3 000 Jahren. In den sieben Staaten der Sahelzone liegt der Grundwasserspiegel oft mehr als 60 Meter tief. Das Wasser kann dort mit traditionellen Mitteln (Kübel und Seil) nicht gehoben werden. Es braucht elektrische Motorpumpen, die allerdings äußerst selten sind. Die Sahara breitet sich unaufhörlich Richtung Süden aus. Von Wüste spricht man, wenn der jährliche Niederschlag unter 80 Millimeter pro Quadratmeter liegt.
Auf dem vertrockneten Boden sterben zuerst die Tiere, dann die Menschen. Die Überlebenden fliehen mit letzter Kraft in die Kanisterstädte an den Küsten: Dakar, Lomé, Lagos und Cotonou am Atlantik, Mogadischu und Mombasa am Indischen Ozean. Aus Bauern werden Bettler, aus stolzen Afrikanerinnen gequälte, ausgebeutete Frauen. Die landwirtschaftliche Produktion sinkt, die Preise steigen und damit wächst der Hunger.
Ich liebe die arabische Sprache. Sie erschafft Bilder, die mir nicht aus dem Sinn gehen. Die Mutter meines Sohnes ist Ägypterin. Ich erinnere mich an Ferientage im Herzen der Altstadt von Kairo, am Suleiman-Pascha-Platz. Mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages kamen die Bäckergesellen in die Hinterhöfe – Kinder zwischen 12 und 15 Jahren. Sie zogen schwere Holzkarren, auf denen Fladenbrote in kunstvoll geschichteten Pyramiden aufgetürmt lagen. „A’ischa, A’ischa!“, riefen sie. „A’ischa“ heißt „Fladenbrot“. Aber gleichzeitig bedeutet das Wort „Leben“.
Der fürchterliche Vernichtungskrieg, den Wladimir Putin gegen ukrainische Kinder, Männer und Frauen führt, bedroht ganz direkt das Leben von Millionen Menschen in der Dritten Welt. Schreckliche Hungersnöte drohen in den ärmsten Ländern, die von ukrainischen Getreideexporten abhängig sind. Zum Beispiel in Ägypten, dem größten Getreideimporteur der Welt. Ägypten importierte vor dem Krieg jährlich rund 12 Millionen Tonnen Getreide, 65 Prozent davon aus der Ukraine. Das Grundnahrungsmittel, dessen Preis zur Hälfte vom Staat subventioniert wird, ist das Fladenbrot. Ägypten hat gegenwärtig Vorräte für vier Monate. Dann werden die Getreidepreise explodieren und der Staat wird sie nicht mehr bezahlen können. Wie 1977 werden Hungeraufstände aufflackern, und diesmal werden Sonderkredite der Weltbank nicht ausreichen.
Andere Beispiele: Tunesien importiert 84 Prozent seines Weizenbedarfs und 60 Prozent seines Bedarfs an Roggen, mehrheitlich aus der Ukraine. Tunesien ist besonders bedroht, weil es nur über geringe Lagerkapazitäten verfügt. Seine Vorräte reichen für knapp einen Monat. Oder Algerien: Es importiert pro Jahr rund 7,7 Millionen Tonnen Getreide, zu 75 Prozent aus der Ukraine. Die FAO veröffentlichte unlängst eine Gesamteinschätzung der Lage. Danach importierten im letzten Jahr 45 Länder aus Afrika und dem Mittleren Osten jeweils mindestens ein Drittel ihres benötigten Getreides aus der Ukraine.
In den Kellern der ukrainischen Städte verhungern die Menschen. Ihr qualvolles Sterben ist Vorbote des „Tsunamis der Hungersnöte“, den UN-Generalsekretär António Guterres am 22. März 2022 voraussagte.
Kommen wir zurück zur Situation in Ägypten. Mehr als 100 Millionen Menschen leben in diesem wunderschönen Land, dessen Agrarfläche weniger als 10 Prozent des Nationalterritoriums ausmacht. Zwei fast unüberwindliche Probleme bestehen: Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung leben von hochsubventioniertem Fladenbrot. Der Staat kann diese Subventionen aber nicht mehr bezahlen. Der Weltmarktpreis einer Tonne Weizen ist hoch: Im Juli 2022 lag er bei 485 US-Dollar. Nur ein Drittel des benötigten Getreides wird in Ägypten im Inland produziert. Der Ausfall der Importe aus der Ukraine und die daraus resultierende rasche Preissteigerung bringen Ägyptens Regierung in eine katastrophale Situation.
Die Regierung griff daraufhin zu einer gefährlichen Maßnahme. Die Bauern werden gezwungen, 60 Prozent ihrer Ernte an den Staat zu liefern, und zwar zu einem Kaufpreis, der mehr als 30 Prozent unter dem Weltmarktpreis liegt, nämlich bei 298 US-Dollar pro Tonne. Die Repression ist hart: Im Nildelta hat die Polizei bis Juli 2022 13 000 Tonnen Getreide konfisziert und 201 Bauern ins Gefängnis geworfen. Hussein Abou Saddam, Präsident der ägyptischen Bauerngewerkschaft, warnt: „Der Bürgerkrieg droht“ (Tribune de Genève vom 27. Juni 2022).
Die Preisexplosion des Düngers, des Saatgutes, der Pestizide einerseits, der erzwungene Dumpingkaufpreis der Ernte andererseits haben Hunderttausende ägyptischer Bauernfamilien ruiniert. Sie werden die ersten Opfer der bevorstehenden Hungersnöte.
Catherine M. Russell ist die kluge, energische Exekutivdirektorin der UNICEF, des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen. Am 3. Juli 2022 gab sie eine Pressekonferenz in Zürich. Sie kam gerade zurück von einer langen Reise durch den Mittleren Osten und Afrika. Sie sagte: „Ich habe Gespenstisches erlebt. In Kinderspitälern herrscht stets Lärm, Stimmengewirr der kleinen Kinder. Aber weder in den Spitälern von Kabul, noch jenen im Jemen oder in Mogadischu hörte ich Stimmen. Totenstille herrschte in den Sälen. Die hospitalisierten Kinder hatten nicht einmal mehr die Kraft zu weinen.“
Die effizienteste Waffe der UNICEF gegen den Hunger heißt RUTF – die Abkürzung für Readyto- use therapeutic food –, ein Riegel aus Erdnussbutter, angereichert mit Pflanzenöl, Mineralien, Vitaminen und anderen Elementen. Auch schwerstens unterernährte Kinder werden mit ein paar Dutzend RUTF-Riegeln ins Leben zurückgeführt.
Die gespenstische Stille in den Kinderkliniken von Afghanistan, dem Jemen und Somalia hat einen Grund: Es fehlen Millionen von RUTF-Riegeln, denn das Budget der UNICEF ist erschöpft.
Wo ist Hoffnung?
Österreich ist eine kreative, unerhört lebendige Demokratie, wahrscheinlich die lebendigste unseres Kontinents.
Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Die Verfassung gibt uns alle Waffen in die Hand, um die mörderischen Strukturen, die den Hunger verursachen, radikal zu zerstören. Keine Börse funktioniert im rechtsfreien Raum. Wir können das Parlament zwingen, das Börsengesetz zu ändern und jegliche Spekulation mit Grundnahrungsmitteln zu verbieten. Wir können den Finanzminister verpflichten, dass er im Gouverneursrat des Internationalen Währungsfonds für die Totalentschuldung der ärmsten Staaten der Welt stimmt. Die freien Bürgerinnen und Bürger haben die Kompetenz, morgen früh den internationalen Landraub, finanziert von den öffentlichen Entwicklungsbanken und der Weltbank, sowie das Agrardumping der Europäischen Union abzuschaffen und so in kürzester Zeit Millionen Menschen vor dem Hungertod zu retten.
Ein zusätzlicher Kampf steht bevor: Das Welternährungsprogramm der UNO liefert die humanitäre Soforthilfe für bisher 91 Millionen Hungernde. Es wird ab diesem Jahr für viele Millionen Menschen mehr helfend tätig werden. Das Welternährungsprogramm hat jedoch seit der Finanzkrise 2008 ein Viertel seines Budgets verloren. Im März 2022 fand die vorläufig letzte Geberkonferenz des Welternährungsprogramms statt, auf der Beiträge in Höhe von 22 Milliarden Dollar gesammelt werden sollten, von denen aber nur knapp 4 Milliarden Dollar von den Industriestaaten bewilligt wurden. Wir müssen kämpfen, damit unsere Regierungen ihren Beitrag für das Welternährungsprogramm und die UNICEF massiv erhöhen. Wir können auch diesen Kampf gewinnen. Alles, was es braucht, ist ein Aufstand des Gewissens.
Ein neues historisches Subjekt ist im Entstehen begriffen: die planetarische Zivilgesellschaft. Millionen Menschen sind erwacht. Unzählige soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer stellen die kannibalische Weltordnung radikal infrage. Sie kämpfen an den verschiedensten Widerstandsfronten. Sie folgen keiner Parteilinie und keinem Zentralkomitee.
Ihr einziger Motor ist das Identitätsbewusstsein aller Menschen. Ich bin der andere, der andere ist ich. Er ist der Spiegel, in dem ich mich selbst erkenne. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Nur geteiltes Glück ist erlebtes Glück. Die neue planetarische Zivilgesellschaft, diese rätselhafte Bruderschaft der Nacht, ist unzerstörbar. Der Gründer der Sozialistischen Partei Frankreichs, Jean Jaurès, wurde am 31. Juli 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Café du Croissant in Paris ermordet. In seinem letzten Artikel in der Zeitung L’Humanité schrieb er: „Der Weg ist gesäumt von Leichen, aber er führt zur Gerechtigkeit.“
Der moralische Imperativ lebt in jedem von uns, auch wenn er häufig unter der Warenrationalität, unter der kapitalistischen Entfremdung verschüttet ist. Die Bruderschaft der Nacht wird stärker von Tag zu Tag. Ich will nicht in einer Welt leben, die vor Reichtum überquillt, in der aber alle fünf Sekunden ein Kind den Hungertod stirbt.
Die Geschichte hat einen Sinn. Mein Leben hat einen Sinn. Eine Welt ohne Hunger ist das realistische Ziel unseres Kampfes.
Salvador Allende starb im brennenden Palacio de La Moneda, dem Amtssitz des Präsidenten in Santiago de Chile, am frühen Nachtmittag des 11. September 1973 während des von den USA politisch und finanziell unterstützten Militärputsches aufständischer Generäle unter der Führung des späteren Diktators Augusto Pinochet. Nur zwölf Tage später verschied im Krankenhaus Santa María in Santiago de Chile sein bester Freund, der Dichter Pablo Neruda, vermutlich vergiftet von denselben Mordgesellen.
Neruda verfasste das epische Gedicht über das Schicksal der lateinamerikanischen Völker. Am Ende dieses Canto General heißt es: „Podrán cortar todas las flores, / pero jamás detendrán la primavera.“ („Sie [i. e. unsere Feinde] können alle Blumen abschneiden, / aber nie werden sie den Frühling beherrschen.“)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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