Gekreischtes TA-BU
Marie Colbin las im Stifterhaus aus ihrem Tagebuch.
Warum lässt man die intimsten Reflexionen seines Alltags, die sich in einem Tagebuch versammeln, ins Freie? Weil sie politisch, historisch schmerzhaft relevant sind wie bei Anne Frank – oder weil sie von lyrischem Treibstoff in Gang gesetzte Momente aus einem sehr speziellen Kopf preisgeben. Marie Colbin hat so einen Kopf, der zu gegebener Zeit wie filterlos jedes Detail speichert und im Handumdrehen auch leicht überhitzt. Ihr "TA-BU" ist Abkürzung, doppelter Wortsinn und Titel in einem, unter dem sie ihre häppchenweisen und ursprünglich ohne Veröffentlichungsabsicht entstandenen Klar- und Poesietexte aus den Jahren 2000 bis 2013 auf 395 Seiten im Verlag "Bibliothek der Provinz" herausbrachte. Am Montag las, kreischte, schrie und flüsterte Colbin im vollen Stifterhaus daraus. Das Buch verkleidet sich nicht als Literatur, es verheißt allerdings rücksichtslose Unmittelbarkeit – und löst diese auf jeder Seite ein.
Davor hatte Ilse Hartl mit einer Textprobe ihren Erstling "Erkämpfte Niederlagen und andere Kurzgeschichten" vorgestellt. Die 74-jährige Autorin schildert mit der Gelassenheit der Erfahrung, wie eine Fliege in die Wahrnehmung einer Pensionistin schwirrt; die Sorgen einer Mutter, ihr Sohn könnte ein Vergewaltiger sein oder wie das Enkerl auf die zunehmend demente Oma eingeht. (pg)