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Brucknerfest wurde feierlich eröffnet: Die Reden im Wortlaut

08. September 2024, 11:00 Uhr

Am Sonntagvormittag wurde das Linzer Brucknerfest überschattet vom LIVA-Skandal offiziell eröffnet. Das sagten bei der Eröffnung Landeshauptmann Thomas Stelzer und Festrednerin Lisz Hirn.

In Linz wurde am Sonntag das Internationale Brucknerfest offiziell eröffnet. Das Klassikfestival steht heuer bis 11. Oktober im Zeichen des 200. Geburtstags des Namensgebers und wartet in seinem Programm mit dem gesamten sinfonischen und sakralen Schaffen  von Anton Bruckner auf. Die Feierstimmung ist angesichts der Brucknerhausaffäre aber  gedämpft.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP). Die Rednerliste beim Festakt wurde unfreiwillig eingedampft. Es fehlten der Intendant - Dietmar Kerschbaum ist heuer u.a. wegen Compliancevorwürfen entlassen worden - und der Bürgermeister. Klaus Luger (SPÖ) hatte Ende August seinen Hut nehmen müssen, weil er - was er zuvor immer in Abrede gestellt hatte - Kerschbaum vor dessen Bestellung die Hearing-Fragen zugespielt hatte.

Thomas Stelzer Bild: VOLKER WEIHBOLD

Hier zwei der Festreden. Das sagte Landeshauptmann Thomas Steler (ÖVP):

Das heurige Brucknerfest ist eingebettet in ein großes Jahr für das gesamte Kulturland Oberösterreich. Wir feiern Anton Bruckner mit einem neuen Veranstaltungsformat, der ersten oberösterreichischen Kultur-EXPO und wir können uns gemeinsam über großen Zuspruch und auch über eine breite inhaltliche Gestaltung freuen. Ich möchte auch sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit mit der Stadt Linz danken. Gleichzeitig präsentiert sich ein ganzer Landesteil, das Salzkammergut und Bad Ischl, als europäische Kulturhauptstadt

Zwischen beiden Großprojekten gibt es ein gutes und abgestimmtes Miteinander. Das gibt uns die Chance, gibt international zu glänzen. Es ist dieses Zusammenspiel von beiden Großereignissen besonders aber auch eine Referenz an die Vielen in unserem Land, die immer in aller Breite und Vielfalt Kultur gestalten, schaffen, anbieten und sich vor allem auch dafür interessieren. 

Es wird hier unter der internationalen Aufmerksamkeit präsentiert, wie wir in Oberösterreich Kultur verstehen und leben: Offen für Neues, bereit zum Experiment, aber auch stolz auf das kulturelle Erbe. Vor allem weil wir wissen, dass Kultur Teil und auch wichtige Basis unseres guten Lebens hier in Österreich und Oberösterreich ist, eines Lebens mit hoher Lebensqualität, in wirtschaftlicher Kraft und Einkommenssicherheit. Das zeigt ihre Möglichkeiten und Wirkmacht:

Kunst ist letztlich immer größer als wir selbst. Kunst steht über Eitelkeiten. Kunst braucht keine Tricksereien. Kunst strebt auch nach dem Guten, dem Wahren und verträgt sich nicht mit der Lüge. Und jeder, der sich für Kunst interessiert und nicht nur vorgibt es zu tun, wer sich von ihr ansprechen lässt, sich auf sie einlässt, weiß das und versucht das auch zu leben. Es sind jene, die Kunst schaffen und gestalten und eben auch jene, die sich für sie interessieren und sich mit ihr auseinandersetzen. 

Das heißt bei Leibe nicht, dass einem alles gefallen müsste, ja man gar zu allem „Ja und Amen“ zu sagen hätte, aber den Impetus anzunehmen, sich anziehen und anstiften zu lassen zum Weiterdenken, zum Weitergehen, zum Entscheiden, zum Tun und zum Gestalten – darum geht´s und das kann Kultur. Für uns selber in der persönlichen Lebensführung, aber auch in der Gesellschaftsgestaltung.  Und immer, aber ganz besonders auch in unserer jetzigen Zeit ist eine Fähigkeit der Kultur besonders hervorzuheben, nämlich dass sie unser Zusammenleben und unser Zusammenkommen fördert.

Wer Kultur mag und Kultur hat, ist nicht darauf aus, auf den anderen geringschätzend, abwertend hinabzuschauen oder auf ihn loszugehen. Sondern den oder das andere mit Interesse anzusehen, anzuhören und auch zu verstehen zu versuchen. Letzteres ist ein Zugang, der dem großen Anton Bruckner nicht immer begegnet ist zu seinen Lebzeiten, eher ganz im Gegenteil. Aber er ist konsequent dabeigeblieben, aus seinem Talent, aus seiner Gabe, alles herauszuholen und er hat damit ein Werk geschaffen, das weit über seine Lebenszeit, weit über seine Heimat Oberösterreich und Österreich hinausreicht und die Jahrhunderte überdauert und uns heute noch mit Freude erfüllt und immer wieder von neuem inspiriert.

Und darum geht es auch immer wieder von neuem und mit neuen Perspektiven beim internationalen Brucknerfest. Ich danke daher allen, in diesem Jahr ganz besonders, die auf und hinter der Bühne zum Gelingen dieses großartigen Festes beitragen. Sie alle bieten uns eindrucksvolles, kulturelles Leben und Erleben und damit Lebensfreude. Es ist für die Landeshauptstadt, aber auch für ganz Oberösterreich wichtig. Ich habe großen Respekt davor, wie es von den vielen, die hier ihre Ideen einbringen und Hand anlegen, gestaltet wird und ich möchte daher gerne anbieten, dass wir darüber hinaus gemeinsam auch mit allen Angeboten und Institutionen des Landes dieses Kulturland gestalten. Es geht nur in einem Miteinander und wir bemühen uns auch sehr darum. 

 Es ist daher ein schönes Zeichen, dass das große Orchester des Landes Oberösterreich, das Bruckner Orchester, mit unserem unvergleichlichen Markus Poschner, auf das wir zurecht stolz sein können und das uns in bester Weise in der Weltöffentlichkeit repräsentiert, heute hier bei der Brucknerfesteröffnung auftritt. Wenn man etwas zusammen machen will, dann schließt man üblicherweise Vereinbarungen und Verträge. Es gab durch lange Jahrzehnte hindurch einen mustergültigen Vertrag der Zusammenarbeit zwischen der Stadt Linz und ihren Institutionen im Kulturbereich und des Landes mit dem sogenannten Theatervertrag. Wie schon so oft sage ich dazu, leider wurde er gekündigt. Vielleicht ist diese Zeit, ist dieses Jahr und sind die Entwicklungen der letzten Wochen auch die Möglichkeit für einen Neustart. Ein Neustart für eine neue, intensiviere Zusammenarbeit und eine Absage an Befindlichkeiten. Mein Zugang ist klar: Den Landsleuten ist egal, wer als Eigentümer eines Kulturhauses im Grundbuch steht – wichtiger ist es auf der gemeinsamen Bühne die richtigen Töne zu treffen. Unsere, meine Hand ist stets offen ausgestreckt. 

Machen wir wieder gemeinsame Sache, arbeiten wir zusammen. Kulturelles Leben, Erleben und Lebensfreude im besten Sinn. Das bietet uns die Kultur, das ist unsere Kultur des Zusammenlebens. Die lassen wir uns von niemandem nehmen, auch nicht von jenen, die hierherkommen und hier leben wollen, aber mit der Art und Kultur unseres Lebens nicht nur fremdln, sondern sie ignorieren, ablehnen oder sogar zu bekämpfen versuchen. Gerade in einem Jahr, in dem große Konzertveranstaltungen deswegen abgesagt werden mussten, muss es ein klares und unbrechbares Bekenntnis geben, dass wir weiterhin selbstbewusst unsere Kultur leben werden, in aller Breite, mit allen Facetten und auch als Angebot an alle, sich in dieses kulturelle Verständnis und kulturelle Leben einzubringen und zu integrieren. Diese Lebensfreude, die Lebenskultur macht uns aus, sie gehört zu uns, sie ermöglicht uns hier gut zu leben und auch zu gestalten.

Vom Ungeist zurück zum Geist. Ein Fest ist immer ein Fest der Sinne – gerade in der Kultur wird klar, dass unsere Sinne mit dem Sinn und mit dem Geist zu tun haben. Kunst und Kultur machen uns bewusst, dass unser Leben nicht vollständig aufgeht in bloß Materiellem, sondern dass ein höherer Anspruch an unser Mensch sein besteht und dass wir selbst auch immer höhere Ansprüche an uns selbst, an unsere Lebensziele haben, aber auch viele Möglichkeiten selber dazu haben. Das wird durch den Titel des diesjährigen Festivals „Bruckners Griff nach den Sternen“ sehr deutlich. Träume und Ziele können meist gar nicht groß oder weit gefasst genug sein, um uns zum Tun, zum Ändern, zur Weiterentwicklung zu animieren. Daher sind wir auch dankbar dafür, dass viele Hochbegabungen auch nach Anton Bruckner, so wie er, heute und gestern und hoffentlich auch morgen ähnliche Entscheidungen getroffen haben und treffen und für uns Kunst schaffen. Denn sonst wären wir nicht das was wir sind, sonst hätten wir nicht das was wir haben. Nicht nur in der Kultur, sondern in allen Bereichen unseres Lebens. Natürlich ist es immer eine individuelle Entscheidung, die dem oder der Betroffenen niemand abnehmen kann. Was wir als Gesellschaft aber tun können und aus meiner Sicht auch müssen, ist die Voraussetzungen zu schaffen, dass kein Talent in unserem Land unentdeckt bleibt und dass jede und jeder die Möglichkeit hat, seine Begabung auszugestalten. 

Worüber wir uns sehr freuen können, das passt genau zum Brucknerfest, dass wir in Oberösterreich ganz besonders in der Musik viele haben, die selber musizieren und Kunst schaffen und schaffen wollen. Viele Talente, die von ihren Eltern und Wegbeleitern gefördert werden, für die wir aber auch ein großes breites Bildungsangebot haben, mit unserem einzigartigen Landesmusikschulwerk und unserer international sehr nachgefragten Bruckneruniversität. Beides wird vom Land Oberösterreich alleine getragen und finanziert. Es ist ein Startvorteil für viele, es ist ein Lebensqualitätsplus, es ist ein Standortvorteil. Ich danke allen, die das mittragen und mitermöglichen. Am Wegweiser in eine gut gelingende Zukunft steht immer Bildung, besonders in der Kultur setzen wir auch darauf. Wir investieren damit direkt in unsere Zukunft, denn auch wenn die Kultur eine immaterielle Macht darstellt, deren Gewicht sich vielleicht nicht messen lässt, ist sie aber sehr wohl in der Lage ins Gewicht zu fallen. Kunst und Kultur geben unserer Gesellschaft vieles wieder zurück, weil sie für ein Klima der Offenheit, des Aufbruchs, der Toleranz sorgen und immer wieder signalisieren, dass der Schöpferische in diesem Land willkommen und möglich ist. Und diesen schöpferischen Geist brauchen wir nicht nur in der Kunst und Kultur, sondern bei vielen Herausforderungen vor denen wir stehen. Wenn ich an die Transformation des Betriebssystems unseres Wirtschaftens weg von fossilen hin zu nachhaltigen Energieträgern denke oder aber auch von der analogen zur digitalen Gesellschaft. Hier ist der menschliche Forschungsgeist unsere erste und entscheidende Trumpfkarte, denn er schaut nach vorne, setzt auf Innovation und Möglichkeiten und Perspektiven anstelle von Verboten und Gängeleien.

Ja, Politik ist aufgerufen, Ziele zu formulieren und Rahmen zu schaffen, aber nicht sich in der Vermessenheit zu ergehen, den schöpferischen Geist einzuengen und ihm in dem, was ihm alles möglich ist, von vornherein engstirnige Deckel aufzuerlegen. Anton Bruckner und sein Werk sind aus Schaffenskraft und Freiheit entstanden und nicht aus der Vorschrift was und wie er seine Monumente der Musik zu komponieren hätte. Und nicht zuletzt sind es Kunst und Kultur, die uns auch Mut machen, wenn etwas nicht auf Anhieb klappt. Das Betreten von Neuland ist auch mit Fehlschlägen verbunden. Fehlschläge gehören zum menschlichen Gestalten, zum Scheitern werden Fehlschläge erst, wenn wir aufgeben, nach dem Neuen zu streben. Dass wir es mit dem nicht bewenden lassen sollen, das leben uns Wissenschaft und Kunst immer wieder vor. Erst durch Fehlerkultur werden wir ganz im Sinn Karl Poppers zur freien Gesellschaft, die den Irrtum immer mit einkalkuliert und daher ganz im Gegensatz zu verborten Dogmatikern auch rascher korrigieren kann.

Sehr geehrte Damen und Herren! Manches an Themen und Problemen der heutigen Zeit kommt uns, ob im privaten oder in der Gesellschaft, allzu groß, herausfordernd, ja überfordernd vor und vieles ist auch schwer. Aber die Kunst und besonders die Musik zeigen uns, dass wir zu vielem befähigt sind, dass wir Zuversicht haben können und es mit Mut angehen sollten, das auch Fernliegende erreichen zu können. Vor allem zeigen sie uns aber, dass es am Allerbesten im Zusammenklang, im Miteinander geht und sie führen uns auch immer wieder zusammen. Ein schöner, ein mutmachender Ansatz gerade in diesen Wochen. Für eine erfolgreiche Region mit hoher Lebensqualität und Sicherheit, für unser Oberösterreich als Land der Möglichkeiten. Dem großen Sohn unserer Heimat, Anton Bruckner alles Gute zum 200. Geburtstag! Ein gelingendes Brucknerfest 2024!

Lisz Hirn Bild: Harald Eisenberger

Und das ist die Rede von Festrednerin, der Philosophin Lisz Hirn:

»War es diese Erfahrung, dieses Erfüllen-Können eines Riesenraumes mit Orgelklängen, außerhalb der Kirchen, in allzu weltlichen Gebäuden […], die Bruckner ein neues Gefühl von Dimension gab, ihn spüren ließ, was Weite bedeutete?«1

Oder waren diese Dimensionen blasphemisch, frevelhaft vielleicht sogar für einen Menschen, für einen einfachen Lehrersohn aus dem oberösterreichischen Ansfelden, der nun mit seinem Orgelspiel von London aus in ganz Europa von sich reden machte? Was ist Bruckners Musik? Ein Beten in Klängen, ein Ausdruck musikalischer Frömmigkeit, ein Gotteslob in Akkorden oder schlicht viel mystischer Bombast? Und wer ist dieser Anton Bruckner eigentlich, der das Etikett des einfachen, wenn auch außerordentlich talentierten Organisten aus der Provinz nie loswurde? 

Anton Bruckner ist kein zugänglicher Mensch. Auf den ersten Blick wirkt er: zu gottergeben, zu eigenbrötlerisch, zu perfektionistisch, zutiefst unsicher im Umgang, vor allem mit dem weiblichen Geschlecht. Auf den zweiten Blick entpuppt sich Bruckner als technikinteressierter Mensch, als jemand, den die politischen Ereignisse nicht kaltlassen, auch wenn er das gottgegebene monarchistische System nie in seinen Grundfesten infrage stellt. Ein Anarch ist Bruckner nur in Bezug auf die bürgerliche Musikwelt seiner Zeit. Dennoch betreffen die politischen, ja die kulturpolitischen Spannungen auch ihn: Bruckner ist Zeitzeuge des schleichenden Niedergangs des Hauses Habsburg, der kriegerischen Auseinandersetzungen und der daraus resultierenden Grenzverschiebungen in Europa. Die Konflikte des 20. Jahrhunderts lassen sich bereits erahnen, viele davon werden sich als ein Produkt von Ideen, Wahnvorstellungen und Grenzziehungen des 19. Jahrhunderts herausstellen. 

Anton Bruckner ist ein herausragender Exponent seines Jahrhunderts, mit dessen Erbe wir bis heute ringen. In Bruckner treffen die Enge der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse mit der fast naiven Neugierde auf das Kommende, auf die technologischen Innovationen sowie die Furcht vor dem sich anbahnenden Abfall vom christlichen Glauben und den politischen Systemwechseln zusammen. Bruckner scheint sich durch seine Musik von dieser Enge, seiner Angst ‒– die Worte Angst/Enge haben dieselbe sprachliche Wurzel ‒– kurieren zu wollen, sich mit seinen ausufernden Klangwelten Weite zu schaffen. Nicht für jeden ist Bruckner Medizin! »Alles hat seine Grenzen. Bruckner liegt jenseits«, soll sein musikalischer Konkurrent Johannes Brahms über ihn gesagt haben. Es war nicht als Kompliment gemeint.

Und Brahms hat recht! Es fällt nicht leicht, Bruckner zu hören, das konstatiert übrigens Bruckner selbst: »Wer sich durch die Musik beruhigen will, der wird der Musik von Brahms anhängen; wer dagegen von der Musik gepackt werden will, der kann von jener nicht befriedigt werden.« Der erfahrene Pädagoge Bruckner will dem Hörer etwas abringen. Dieses Etwas könnte die »seelische Hörreife« sein, auf die Rüdiger Görner in seiner kürzlich erschienenen Biografie Bruckner: Der Anarch der Musik verweist. Eine seelische Hörreife, von der alles im Leben abhinge, im Bruckner-Jahr und überhaupt.2 Die durch ästhetische Erziehung gewonnene Hörreife böte gewissermaßen eine Inokulation, eine Impfung: gegen das Unerhörte, gegen die Missklänge, die im Miteinander entstehen, sei es im Musischen, im Sozialen oder Politischen. Eine Hörreife, die es ermöglicht, nicht nur Einklänge, sondern auch Dissonanzen zu schätzen. Sie ist ausschlaggebend, ob wir die Enge überwinden, die Weite aushalten oder uns in ihr verlieren. 

Was können wir daraus gewinnen, die wir einerseits in der Enge tribaler und nationaler Interessen feststecken und uns andererseits gleichzeitig in einem schier unendlichen virtuellen Netz zu verlieren scheinen? Zum Beispiel die Einsicht, dass Maßnahmen, die für Kunst sensibilisieren, es auch gleichzeitig für die Politik tun. Oder dass es unerlässlich ist, sich Dissonanzen auszusetzen, um eine andere, eine neue Perspektive gewinnen zu können. Der Dichter und Philosoph Friedrich Schiller schreibt in seinen berühmten Briefen über die notwendige ästhetische Erziehung jedes Bürgers: »Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen […] ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann.«3 Erst muss der bloße Einsatz der Stimme als Geräusch zur Melodie werden, die »tierische Stimme« zur »schönen Stimme« werden, dann können wir von der sinnlichen über die ästhetische in die politische Sphäre dringen. Und Schiller fährt fort: »Es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.«4 

Bruckner zieht ähnliche Schlüsse, visiert allerdings ein anderes Ziel an. Der Komponist will den sinnlichen Menschen gottesfürchtig machen, in dem er diesen zuvor ästhetisch macht. Doch wir, seine heutigen Zuhörer, fürchten uns nicht mehr wie der fromme Bruckner vor dem Jüngsten Gericht im Jenseits, sondern müssen um unsere Auslöschung im Diesseits bangen, politisch sowie ökologisch, real wie virtuell. Das allgegenwärtige »Jedem das Seine«, Dogma eines schlampigen Relativismus, das in vielen liberalen Gesellschaften gepflegt wird, zeigt sich nicht nur in einer geschmacklichen, sondern auch in einer verhängnisvollen politischen Gleichgültigkeit. Herbert Marcuse hat diese Gefahr in seinem Essay Repressive Toleranz 5 bereits in den 1960ern adressiert und gefragt, ob die Idee der Freiheit in demokratischen Gesellschaften nicht die uneingeschränkte Toleranz gegen  rückschrittliche Bewegungen ausschließt. Und gehören nicht alle Versuche und Doktrinen, Menschen und Gesellschaften durch Angst wieder mehr voneinander zu trennen zu diesen Rückschritten, die wir als mündige Bürger nicht ignorieren dürfen? 

Retrotopien nannte der Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman rückschrittliche Bewegungen, die sich nicht auf die Zukunft richten, sondern in eine fiktiv überhöhte Vergangenheit flüchten. Man müsse nur zurück in die goldene Ära, zurück zur Natur, zurück zu den Wurzeln, zurück in die eigene Blase, dann würde alles gut. Retrotopisten erhoffen sich die Verbesserung der Welt durch Organisationsprinzipien aus der Vergangenheit. Im Österreichischen gibt es dafür eine Redewendung: »So haben wir es schon immer gemacht.« Mit diesem Diktum bricht erstaunlicherweise ausgerechnet der Biedermann Bruckner in musikalischer Hinsicht. In seinen sinfonischen Kompositionen und mit ihrer Hilfe hinterfragt er sich und den musikalischen Geschmack seiner Zeit unerbittlich. Brahms oder Bruckner? Oh doch, über Geschmack soll man sogar streiten! Letztlich haben Schmecken und Wissen eine gemeinsame Wortwurzel. Das griechische Wort, welches den Weisen bezeichnet, gehört etymologisch zu ›sapio‹, ›ich schmecke‹; ›sapiens‹ ist ›der Schmeckende‹, wie schon Friedrich Nietzsche hervorhebt. Der Sapiens, also der Weise, ›schmeckt‹ quasi die bedeutsamen Unterschiede heraus. Der Weise ist nichts anderes als ein Mensch des ›schärfsten Geschmacks‹. Das Schmecken ist folglich nicht eine bloße Sinneswahrnehmung, sondern ein Erkenntnisvermögen des Homo sapiens. Wo dieses Vermögen fehlt, muss und wird auf Vormünder zurückgegriffen. Damals wie heute gab es derer viele am Markt, seien es die Ansichten politischer Extremisten, religiöser Fundamentalisten, hoch bezahlter Tik-Tok-Influencer oder die technologischen Endzeitfantasien von Tycoons aus dem Silicon Valley. 

Nicht nur der geschmackliche Relativismus bedroht die politische Stimmlichkeit in unseren Demokratien, auch die Geschmacklosigkeit, die im Virtuellen um sich greift, trägt das Ihre dazu bei. Wir erleben bereits deutlich, dass in unserer ›schönen neuen digitalen Welt‹ zwar vieles, aber bei Weitem nicht alles Analoge in digitale Signale umgewandelt, dass in ihr vieles effizienter, aber nicht zwingend besser oder gerechter wird, schon gar nicht wir selbst. »Aus dem digitalen Echoraum, in dem man vor allem sich selbst sprechen hört, schwindet immer mehr die Stimme des Anderen.«6 

Das ›Du‹ wird heute ständig vom ›Ich‹ übertönt. Wie Idioten kreisen wir im Orbit um unser virtuelles Selbst, für das wir pausenlos werben. So fehlt uns zunehmend die Vision einer Welt, die für lebendige, endliche und stimmfähige Wesen gemacht ist und nicht nur für ›menschliche Maschinen‹, die frappant den Vorstellungen der Jünger des Radikalaufklärers La Mettrie aus dem Jahre 1748 gleichen. Was die einen also als einen weiteren menschheitsgeschichtlichen Fortschritt werten, nehmen die anderen als Fortführung eines narzisstischen Fortschrittsimperativs wahr, der zu Handlungen aufruft, die zerstörerisch auf die Möglichkeit künftigen Lebens wirken. Beide haben recht! Die Größe eines ›Fortschritts‹ bemisst sich nach Nietzsche sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden musste. 

Unsere westlichen Demokratien – und wir als Teil von ihnen – stehen nun nicht nur vor der Herausforderung, zu beweisen, wofür wir eigentlich stehen, wir müssen zusätzlich Souveränität gegenüber unseren Maschinen gewinnen. Ansonsten drohen Algorithmen und Bot-Armeen die Stimmfähigkeit unserer Demokratien endgültig zu sabotieren. Dies zu verhindern, bedeutet auch, Räume und Werke zu schaffen, in denen wir einander wieder zumuten und hören müssen. An dieser Stelle kommt dem Kultur- und Kunstschaffen eine Schlüsselfunktion für das Gedeihen einer Gesellschaft zu. Kultur ist so verstanden kein Luxus, den wir uns in ›guten Zeiten‹ leisten können oder den ›Kulturverliebten‹ nach Belieben streichen könnten, »sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert«, wie es der ehemalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker so treffend formulierte. Allerdings nur, wenn man sie lässt. 

Kunst auf Moral zu reduzieren oder sie gar den gesellschaftlichen Normen unterzuordnen und sie durch die Politik zu instrumentalisieren, all das nimmt der Kunst ihre Schlagkraft. Die Aufgabe der Kunst ist es nicht, die Gesellschaft konkret zu verändern und Lösungen zu implementieren. Dafür muss sich die Politik zuständig fühlen. »Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit.« Wer diesem Satz von Friedrich Schiller zustimmt, muss der Kunst einen Platz jenseits von moralischen und wissenschaftlichen Kategorien einräumen, jenseits von Gut und Böse, von Wahr oder Falsch. Für sie gelten dann vorrangig Kategorien wie schön und hässlich, berührend oder abstoßend, beruhigend oder packend. Und ich wage mich noch weiter vor, wenn ich behaupte, dass Kunst auch einfach auf der Suche nach dem Schönen, ja überheblich sein darf und – im Gegensatz zu Moral, Wissenschaft und Politik – sogar verantwortungslos sein muss. Wen interessiert noch Kunst, die nichts riskiert, die nicht das Unmögliche versucht? Anton Bruckner griff in seiner Musik zweifellos nach den Sternen. Das Notwendige, das wir als Zuhörer, als sinnliche Menschen, tun müssen, ist, uns vom Scheitern des Künstlers, das exemplarisch für das Scheitern aller menschlichen Bemühungen steht, packen zu lassen.

Quellennachweise
1 Görner, Rüdiger: Bruckner: Der Anarch in der Musik, Wien 2024, S. 184.
2 Ebd., S. 355.
3 Schiller, Friedrich: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, in:
Sämtliche Werke, Bd. 5, München 31962 [1795], S. 642.
4 Ebd.
5 Marcuse, Herbert: »Repressive Toleranz«, in: Robert Paul Wolff,
Barrington Moore, Herbert Marcuse (Hg.), Kritik der reinen Toleranz,
Frankfurt am Main 1966.
6 Han, Byung-Chul: Die Austreibung des Anderen: Gesellschaft,
Wahrnehmung und Kommunikation heute, Frankfurt am Main 2016, S. 77.

 

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3  Kommentare
3  Kommentare
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transalp (10.888 Kommentare)
vor 45 Minuten

Und war der Ex-Bgm dabei?
(ausgerechnet im Brucknerhaus- daher wohl eher nicht)
Oder hatte er sich versteckt?
Nun Ja-hat er sich selber eingebrockt...

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soistes (1.767 Kommentare)
vor einer Stunde

Schöne Reden....

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Kopfnuss (10.325 Kommentare)
vor 53 Minuten

Teure Worte, aber eben nur Worte.

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