Entwurzelt und entfremdet
1938 hatte man aus rassistischem Wahn beinahe die ganze intellektuelle Elite aus dem Paradies vertrieben. Wer den Holocaust im Exil überlebte, war entwurzelt und nur wenige konnten an frühere Zeiten anknüpfen.
Karl Weigl, dem das Brucknerhaus an diesem Wochenende zwei Konzerte widmete, war einer dieser Hoffnungsträger, dem aber das Schicksal vieler gemäßigter Komponisten widerfuhr – einer Avantgarde anzugehören, die im Nachkriegs-Europa als spätromantisch verunglimpft wurde.
Am Samstag präsentierte das Serenus Quartett fulminant zwei von Weigls acht Streichquartetten und Michael Korstick widmete sich höchst intensiv der 1903 nach Arnold Böcklins gleichnamigem Gemälde entstandenen Phantasie für Klavier "Die Toteninsel" und entschlüsselt die eng verschlungenen melodischen Phrasen zu einem durchsichtig klaren Gebilde voller emotionaler Extreme. Nicht minder dicht gewebt ist das 4. Streichquartett, das die harmonischen Grenzen zu sprengen droht. Das 6. Streichquartett, das erste große Werk im Exil, ist von überbordender Freude geprägt, die sich aber im zweiten Satz "De profundis" in tief empfundene Klage wendet.
Wie die Phantasie und das 6. Streichquartett erlebte auch die "Apocalyptic Symphonie", Weigls V., ihre europäische Erstaufführung – fast75 Jahre nach ihrer Entstehung. Ein Werk, in dem Weigl das Grauen einer ganzen Generation verarbeitet und mit dem 3. Satz "Paradise lost" einen Abgesang auf eine längst verlorengegangene Kultur anhebt. Ein durch und durch Bruckner’sches Adagio, das deutlich macht, wohin diese andere Avantgarde gegangen wäre.
Kombiniert hat man diese beeindruckende Symphonie, die das Bruckner Orchester unter Thomas Sanderling höchst überzeugend und stimmig inszenierte, mit der "Genesis Suite", für die sieben in Amerika lebende Komponisten Beiträge geleistet haben. Neben dem phantastischen Bruckner Orchester beeindruckten Nicole Heesters und Franz Grundheber als wortgewaltige Sprecher bei dieser österreichischen Erstaufführung.
Fazit: Zwei absolut notwendige, die Vergangenheit ansatzweise bewältigende Konzerte, die sich allerdings viel zu viele entgehen ließen.
Brucknerhaus: Karl-Weigl-Schwerpunkt, 26. und 27.1.
Die Mehrheit der Bevölkerung bekommt meiner Einschätzung nach im Elternhaus keinen Bezug zur Klassik. Im Verlauf der Lebensjahrzehnte entwickelt sich oftmals ein latentes Interesse dafür, aber die Einstiegshürde ist hoch und anscheinend hat niemand ein Interesse daran, sie abzusenken. Wofür auch der vorliegende Artikel ein beredtes Beispiel liefert.