Erika Pluhar spürt Vergangenes auf
Erika Pluhar erinnert in ihrem jüngsten Buch an die Kriegskindheit und Nachkriegsjugend ihrer älteren Schwester Gitti.
Das Foto zeigt eine geheimnisvolle, schöne Frau mit einem Schwanenhals, aufgenommen in "New York, ca. 1958". Man sieht Brigitte King, geborene Pluhar, die ältere Schwester von Erika Pluhar, einige Jahre nach der Auswanderung mit ihrem Mann, dem Fotografen Roland Pleterski. Das Foto beschließt eine Geschichte, die endet, ehe sie richtig spannend wird. In "Gitti" erzählt Erika Pluhar die Kindheit der Schwester nach – und deutet das Abenteuer ihres späteren Lebens nur kurz an.
Als kleine Erika, die Mittlere eines "Dreimäderlhauses", ist die Autorin selbst in der Handlung immer wieder präsent, zu der um einige Jahre Älteren aufblickend, von ihr immer wieder betreut, vieles beobachtend und mitunter naiv nachfragend. Und tatsächlich kommt dem Leser Brigitte, das zurückhaltende, pflichtbewusste, stille Kind, nahe. So nahe, dass man die Wandlung zum Model, zur Auswanderin, zur selbstbewussten Frau gerne ebenfalls mitbekommen hätte.
Doch auch das, was Erika Pluhar in einfacher, schmuckloser Nacherzählung aus den ersten beiden Lebensjahrzehnten der Schwester zu berichten weiß, ist abenteuerlich genug. Brigitte wird 1933 in Rio de Janeiro geboren, wo der Vater bei einer Ölfirma arbeitet, übersiedelt mit den Eltern als Dreijährige nach München, "heim ins Reich". Josef Pluhar ist überzeugter Nationalsozialist, arbeitet tatkräftig am Aufbau des NS-Staates mit, übersiedelt mit der Familie später nach Wien, dann ins besetzte Polen, wo er in Lemberg Adjutant des Gouverneurs ist, und bietet seiner Frau Anna und seinen bald drei Töchtern (nach Brigitte und Erika kommt Ingeborg zur Welt) als Teil der Funktionärselite ein Leben in Wohlstand.
Das Blatt wendet sich. NS-Deutschland gerät in die Defensive, und die Verbrechen der Nationalsozialisten lassen sich auch zunehmend für die Kinder erahnen. Der Vater meldet sich freiwillig als einfacher Soldat an die Front (was ihm später, aus englischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, bei der Entnazifizierung positiv angerechnet wird), die Familie wird zurück ins vom Bombenangriffen schwer getroffene Wien und später weiter nach Oberösterreich geschickt, wo die Mutter mit ihren drei Töchtern am Land einquartiert wird.
"Gitti" erzählt ein archetypisches österreichisches Familienschicksal der 1930er- und 40er-Jahre, und es erzählt natürlich auch von den ersten Lebensjahren von Erika Pluhar selbst. Was ihre bei der Oma untergebrachte Schwester dazu bringt, als 16-jährige Schülerin der Modeschule Michelbeuern eine Beziehung zu einem Lehrer einzugehen (was heute wohl eher vor Gericht als vor dem Traualtar landen würde), ihn zu heiraten und mit allen bürgerlichen Konventionen zu brechen, das macht Pluhar nur erahnbar – und schöpft dabei wohl nicht zuletzt auch aus ihrem eigenen Leben. Zu den Fotos, die bei Ausstellungen ihres Schwagers Roland Pleterski (1920–2000) zu sehen waren, zählen nicht zuletzt Porträts der jungen Erika Pluhar selbst. (whl)
Das Buch
Erika Pluhar: „Gitti“, Residenz Verlag, 224 Seiten, 25 Euro
Die gibts auch noch.