Leitkultur, Leidkultur und Leutkultur
Die von der ÖVP betriebene Leitkulturdebatte ist eine Stellvertreterdebatte. Eigentlich geht es um "die Ausländer", um Migration und Integration.
Es geht auch um Kriminalität, den tatsächlichen oder vermeintlichen Missbrauch des Sozialsystems, nicht zuletzt um die Abstiegsängste Einheimischer; in diesem Sinn kann man von einer Leidkultur sprechen.
In Deutschland wird die Debatte von CDU und CSU befeuert. Dort muss sogar der Christbaum als Leitidee herhalten.
Aber wer versucht, die Leitkultur zu konkretisieren, begibt sich in vermintes Gelände. Wertedebatten seien in unsicheren Zeiten "symbolisches Handeln", ist in den linksliberalen "Frankfurter Heften" zu lesen. "Diese Debatten suggerieren politische Aktivität und kosten scheinbar nichts. Dabei verfestigen sie die Grenzziehung zwischen ‚uns‘ und ‚den anderen‘." Die Leitkultur als Unsere-Leut-Kultur.
Der Leitkulturbegriff hat einen schalen Beigeschmack. Die wahlkämpfende ÖVP will die Fortsetzung des Kurses von Sebastian Kurz legitimieren – eines Kurses, den die Fans des Ex-Kanzlers bis heute verherrlichen, der aber nahezu erfolglos war. Zur Erinnerung: Prestigeprojekte von Türkis-Blau wurden von Gerichten gekippt. Verfassungswidrig war etwa das Kopftuchverbot an Kindergärten und Volksschulen, die Schließung von Moscheen sowie die "Sozialhilfe neu" (Schlechterstellung von Zuwanderern). Der Europäische Gerichtshof verbot die Indexierung der Familienbeihilfe, weil sie Ausländer diskriminierte.
Kurz-Politik, notgedrungen ohne Kurz, ist die leicht erkennbare Absicht hinter dem Leitkulturprozess von Integrationsministerin Susanne Raab. Kürzung der Sozialhilfe, schärferes Staatsbürgerschaftsrecht, Islam-Kritik: Das ist alte Politik mit neuer Politur.
Damit ist nicht gesagt, dass es keine Probleme bei der Integration gäbe. Es gibt sie im Übermaß. Abhilfe könnte etwa eine bessere Bildungspolitik schaffen – und ein besserer Zugang zum Arbeitsmarkt. Arbeit ist die beste Form der Integration.
Was die Leitkultur betrifft, hat Österreich bereits eine solche, nämlich das Bundesverfassungsgesetz. Demokratie, Rechtsstaat statt Gottesstaat, Pluralismus, Frauenrechte, all das gehört zum Grundkonsens. Er braucht keine Wahlkampfveranstaltung.
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