Als dann die Geschichte den Spieß umdrehte
FREISTADT. Josef Schicho liefert einen eindringlichen Bericht aus dem Mühlviertel über das "Drüben".
Gedenken, Gedenken: Über den Mauerfall vor 25 Jahren, mit dem auch der Eiserne Vorhang, der quer durch Europa gezogen worden war, einriss. Der Erinnerungs-Daten-Tsunami, der über die Medien in die Hirne schwappt, wirkt infolge des permanenten Trommelns über gewesenes Grauen und neue Hoffnung auf die Menschen auch ermüdend und durch die Statistiken in Millionen-Mengen abstrakt. Ein Direktbericht, herausgezoomt aus dem Geschehens-Weltmeer, bringt uns die Geschichte auch emotional näher. Beispiel: Ein "eingesessener" Mühlviertler erzählt vom Gewesenen "drüben" und dem beharrlichen Einwurzeln und Hocharbeiten auf steinreichem Grund: Josef Schicho. Schicho stammt aus dem grenznahen tschechischen Ort Kaplitz, die Familie konnte nach dem Krieg, als eine neue Eiszeit über Europa hereinzubrechen drohte, in abenteuerlicher Odyssee nach Oberösterreich entkommen und hier eine neue Existenz begründen.
"Entkommen"
Als nach dem für Deutschland verlorenen Krieg die Rachegefühle und der Hass auf die Deutschen in Böhmen – der ja nicht erst seit dem Nazi-Terror den Tschechen gegenüber existierte – sich freie Bahn schaffen konnten, drehte die Geschichte den Spieß um und lieferte jetzt die Deutschen den Tschechen aus, einem Terror, der um nichts geringer war als der deutsche ihnen gegenüber zuvor. Einfache Vertreibung war noch die mildeste Form. Darüber erzählt Schicho in seinem nüchternen Zeitzeugen-Bericht, der auch infolge der unspektakulären, einfachen, doch präzisen und bildhaften Gestaltung bewegt, nicht nur der realen Faktenvermittlung wegen. Er schildert Kindheit und Jugend da "drüben", das Heranrollen böser Zeitwogen, das Anheimfallen der Personen in nächster Nähe der Nazi-Propaganda, die – zuweilen echte – Begeisterung, mit der die geschichtliche Entwicklung begrüßt und begleitet wurde.
Doch dann kam das dicke Ende einer neu geschaffenen Hölle, der er entkommen konnte. Doch verschweigt er auch nicht Menschlichkeit auf beiden Seiten. Das Einwurzeln auf Mühlviertler Grund im Bezirk Freistadt – in der Region, die gegenüber reicheren im Süden des Landes extrem benachteiligt war – natürlich hauptsächlich aus geopolitischen Gründen –, war schwer, doch beharrliches Arbeiten trug – wenn auch erst einmal bescheidene – Früchte. Schicho wuchs in das regionalpolitische Wirtschaftsgeschehen ein, wurde Mitbegründer des fortschrittlichen Maschinenrings in der Region, machte sich sozial verdient. Die Schilderung von Aufbau und Hocharbeiten – eingeflochten persönliches, keineswegs leichtes Leben – ist auch ein allgemein verbindliches authentisches Beispiel für die Gesamtentwicklung in der Region. Schicho führt seinen Zeitbericht bis herauf in die aktuellen Auseinandersetzungen etwa um Regionalentwicklung und verkehrsmäßige Infrastruktur – Bau der S 10 in seinem Lebensumfeld –, wobei die politisch getroffenen Entscheidungen nicht nur sein ungeteiltes Wohlgefallen finden (womit er nicht alleine dasteht, er untermauert seine Kritk sachlich). Wer die Region um Leopoldschlag besucht, hinüberschaut über die Maltsch in das böhmische Dörfchen Zettwing, für den entrollt sich durch die mit vielen Fotos angereicherte Lektüre dieses Buches ein kleinregionales Zeitgeschichts-Panorama, denn diese Gegend spielt in der Geschichte mit.
Josef Schicho: "Heimat: verloren – gefunden". Edition Geschichte der Heimat. 132 Seiten, illustriert, 18,50 Euro.
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