OGH: Einsperren von neunjähriger Heimbewohnerin "Freiheitsbeschränkung"
WIEN/GRAZ. Der Verein Vertretungsnetz, der sich für die Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft und Bewohnervertretung bemüht, hat in den vergangenen Monaten immer wieder Freiheitsbeschränkungen in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche kritisiert. Nun liegt ein Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH) zu einem besonders aufsehenerregenden Fall in der Steiermark vor.
Demnach war das Einsperren einer Neunjährigen in ihr Zimmer unzulässig. Seit Mitte 2018 gilt das Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) auch in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche, so der Verein Vertretungsnetz. Freiheitsbeschränkungen wie etwa das Festhalten während Impulsdurchbrüchen oder die Gabe beruhigender Medikamente sind demnach nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und müssen von den Einrichtungen an die Bewohnervertretung gemeldet werden.
15 Minuten in ihr Zimmer gesperrt
Vor diesem Hintergrund überprüfte der Fachbereich Bewohnervertretung des Vertretungsnetzes im Jahr 2020 die Freiheitsbeschränkung an einer neunjährigen Bewohnerin in der Steiermark. Das Mädchen litt an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, bedingt durch jahrelang erlebte Gewalt im Elternhaus. Immer wieder kam es zu Impulsdurchbrüchen mit Selbstverletzungen, großer Wut und Traurigkeit. Es eskalierte ein Streit unter mehreren Kindern in der WG, die Neunjährige bedrohte einen Mitbewohner. Die Betreuerinnen und Betreuer sperrten das Mädchen, welches eine Glasscherbe bei sich hatte, daraufhin gemeinsam mit einer Mitbewohnerin für 15 Minuten in ihr Zimmer, so das Vertretungsnetz.
"Wir haben bei Gericht beantragt, diese Freiheitsbeschränkung zu überprüfen. Denn aus unserer Sicht war diese Maßnahme zur Gefahrenabwehr denkbar ungeeignet", erläuterte Grainne Nebois-Zeman, stellvertretende Fachbereichsleiterin der Bewohnervertretung. Die Einrichtungsleitung argumentierte dagegen: Erstens weise die Traumafolgestörung des Mädchens nicht den Schweregrad einer psychischen Erkrankung auf, weshalb das Heimaufenthaltsgesetz gar nicht anzuwenden sei. Weiters sei das Einsperren eines Kindes in ein Zimmer eine "alterstypische" pädagogische Maßnahme.
Das Erstgericht folgte der Rechtsansicht des Vertretungsnetzes. Die Maßnahme sei zur Abwendung der Gefahr nicht geeignet gewesen und hätte darüber hinaus die miteingeschlossene Mitbewohnerin gefährdet. Die Einrichtungsleitung brachte Rechtsmittel gegen die bezirksgerichtliche und die ebenfalls die Geltung des HeimAufG bestätigende landesgerichtliche Entscheidung ein. Der OGH stellte nun klar, dass das Einsperren des Mädchens "ohne Zweifel" eine Freiheitsbeschränkung war, diese zur Gefahrenabwehr ungeeignet und daher unzulässig.
Die OGH-Entscheidung enthält laut Vertretungsnetz darüber hinaus wertvolle Klärungen zum Rechtsbegriff der psychischen Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. "Mit dieser Entscheidung wird noch einmal klargestellt, dass es in sozialpädagogischen Einrichtungen sehr wohl zu Freiheitsbeschränkungen kommt und dass dabei strenge Regeln einzuhalten sind", betonte Nebois-Zeman.
Widerstand gegen die Umsetzung des Heimaufenthaltsgesetzes
Leider gebe es "von Seiten einiger Länder (denen verwaltungsrechtlich die Aufsicht über Kinder- und Jugendeinrichtungen zukommt) massiven Widerstand gegen die Umsetzung des Heimaufenthaltsgesetzes", konstatierte der Verein. So sei etwa die Steiermark der Rechtsansicht, "dass keine ihrer sozialpädagogischen Wohneinrichtungen unter den Anwendungsbereich des Gesetzes fällt". Daher würden viele Einrichtungen ihrer Meldeverpflichtung nicht nachkommen. "Kindern und Jugendlichen wird dadurch der Rechtsschutz genommen, der ihnen verfassungsgesetzlich zusteht", kritisierte Nebois-Zeman.
"Anstatt zügig zu klären, ob bestimmte Freiheitsbeschränkungen an Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen zu Recht erfolgen oder nicht, führen die Bedenken einzelner Länder, ob denn das zugrunde liegende Bundesgesetz in der jeweiligen Einrichtung überhaupt anwendbar sei, zu höchst aufwendigen und langwierigen Verfahren", hieß es in einer Aussendung des Vereins. Nebois-Zeman: "Es ist für uns nicht nachvollziehbar, dass ein Bundesgesetz über bald sechs Jahre durch einzelne Länder und Träger mit dieser Hartnäckigkeit blockiert wird - auf Kosten von Kinderrechten."