Ukraine bereitet sich auf "massiven russischen Angriff" vor
KIEW/MOSKAU. Während die Evakuierungsbemühungen für Mariupol angelaufen sind, bereitet sich die Ukraine auf einen massiven russischen Angriff im Osten des Landes vor.
Man sehe dort eine Truppenkonzentration, sagte Selenskyj am Donnerstag. Auch auf russischer Seite hieß es, Ziel sei es, die Gebiete des Donbass zu erobern, die bisher noch nicht unter der Kontrolle der prorussischen Separatisten stünden. Diese kontrollieren Teile der rohstoffreichen Ostukraine seit 2014.
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Russland hat in der fünften Woche des Krieges in der Ukraine angekündigt, seine militärischen Aktivitäten im Nordwesten des Landes und um die Hauptstadt Kiew zurückzufahren. Das britische Verteidigungsministerium teilte mit, dass man aber in den Vororten Kiews dennoch in den kommenden Tagen heftige Kämpfe erwarte. Selenskyj führte den Teilrückzug der russischen Truppen vor allem auf dortige militärische Rückschläge zurück.
Video: ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz berichtet über die aktuelle Lage und die angekündigte Feuerpause
Unterdessen gibt es neue Hoffnung auf Hilfe für die in der südostukrainischen Hafenstadt Mariupol von russischen Truppen eingeschlossenen Menschen. Das Internationale Rote Kreuz teilte mit, mehrere Teams seien auf dem Weg nach Mariupol, um Evakuierungen zu organisieren. Russland habe dem zugestimmt. Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk sagte, ein Konvoi aus 45 Bussen solle Menschen aus der Stadt bringen. In den vergangenen Tagen waren allerdings Evakuierungsversuche aus der durch russische Bombenangriffe stark zerstörten Stadt mehrfach gescheitert. Das britische Verteidigungsministerium berichtete am Donnerstag von weiteren heftigen Kämpfen um die Stadt.
Der russische Präsident Wladimir Putin betonte indes, dass die Bedingungen für einen Waffenstillstand im Ukraine-Konflikt vorerst nicht vorhanden sind. Es sei noch verfrüht, über ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nachzudenken, sagte Putin bei einem Gespräch mit dem italienischen Premier Mario Draghi, wie der italienische Premier bei einer Pressekonferenz mit Auslandkorrespondenten in Rom berichtete.
Kämpfe nahe Kiew gehen weiter
Ungeachtet der von Russland angekündigten militärischen Deeskalation bei Kiew gehen die Kämpfe in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt nach ukrainischer Darstellung weiter. Einheiten der Nationalgarde hätten seit Mittwoch Artillerie, Raketensysteme und mehrere Dutzend Panzerfahrzeuge der russischen Truppen zerstört, teilte das Innenministerium am Donnerstag bei Telegram mit. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Auch die Nato sieht im Ukraine-Krieg keine Signale der Entspannung. "Nach unseren Geheimdienstinformationen ziehen sich russische Einheiten nicht zurück, sondern positionieren sich neu", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag in Brüssel. Russland versuche, seine Truppen neu zu gruppieren, Nachschub zu organisieren und die Offensive im Donbass zu verstärken. Gleichzeitig werde der Druck auf die Hauptstadt Kiew und andere Städte aufrechterhalten.
In Verhandlungen mit der Ukraine über ein Ende des Kriegs hatte Russland angekündigt, die Kampfhandlungen bei Kiew und Tschernihiw deutlich zurückzufahren. Nach Erkenntnissen der US-Regierung zog Russland binnen 24 Stunden etwa ein Fünftel seiner Truppen aus der Umgebung der Hauptstadt ab. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, die russischen Truppen zögen nicht freiwillig ab, sondern würden von der ukrainischen Armee verdrängt.
"Wir glauben keiner einzigen schönen Phrase"
Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk sprach in einem Interview mit ukrainischen Medien in der Nacht zum Donnerstag von einem weiteren Versuch russischer "Manipulation". Selenskyj sagte in seiner Ansprache: "Wir glauben niemandem, keiner einzigen schönen Phrase". Dabei bezog er sich auf die Zusicherung russischer Unterhändler vom Dienstag, Moskau werde seine Angriffe auf Kiew und Tschernihiw im Norden "radikal" zurückfahren.
Dennoch wurde Tschernihiw laut ukrainischen Behörden weiterhin beschossen. Der ukrainische Generalstab erklärte, dass er kurzfristig sogar eine "Intensivierung" des russischen Feuers erwarte. Reporter der Nachrichtenagentur AFP meldeten zudem weiterhin Explosionen aus der Richtung der umkämpften Kiewer Vorstadt Irpin.
Selenskyj bekräftigte Angaben seiner Armee, dass sich die russischen Streitkräfte nur umgruppieren würden, damit sie in der Donbass-Region im Osten stärker angreifen können. "Wir werden nichts verschenken. Wir werden um jeden Meter unseres Territoriums kämpfen", warnte der Präsident.
Charkiw: "Überall Leichen verstreut"
Aus zahlreichen Ortschaften in der Ostukraine wurden weitere Luftangriffe gemeldet. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs wurde die Großstadt Charkiw mit Artillerie beschossen. Die ukrainische Armee gewann demnach die Kontrolle über eine strategisch wichtige Autobahn von Charkiw nach Tschugujew zurück. "Überall liegen russische Leichen verstreut", sagte ein ukrainischer Geheimdienstoffizier zu AFP.
Der Beschuss von Tschernihiw hält auch nach Angaben des britischen Militärgeheimdienstes an. Russische Truppen hielten weiterhin Stellungen östlich und westlich von Kiew, teilt das britische Verteidigungsministerium mit. "Vermutlich wird es in den kommenden Tagen heftige Kämpfe in den Vororten der Stadt geben." Auch Mariupol liege weiterhin unter Beschuss. Die ukrainischen Kräfte hätten das Zentrum der Hafenstadt am Asowschen Meer aber noch immer unter Kontrolle.
US-Militärs sagten indes, dass die russischen Streitkräfte begonnen hätten, sich aus der Region um das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl zurückzuziehen. "Wir glauben, dass sie abziehen, aber ich kann Ihnen nicht sagen, dass sie alle weg sind", sagte ein Pentagon-Vertreter, der anonym bleiben wollte.
Video: Militär- und Sicherheitsexperte Walter Feichtinger analysiert die aktuellen Kampfhandlungen in der Ukraine.
"Damit diese humanitäre Operation erfolgreich ist, schlagen wir eine direkte Beteiligung von Vertretern des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) vor", hieß es in einer russischen Erklärung. Der humanitäre Korridor soll demnach über die unter russischer Kontrolle stehende Stadt Berdjansk ins 250 Kilometer entfernte Saporischschja führen.
Das russische Ministerium forderte die Regierung in Kiew auf, die "bedingungslose Einhaltung" der Feuerpause durch eine schriftliche Mitteilung an die russische Seite sowie an das UNHCR und IKRK zu bestätigen. Russland hatte bereits mehrfach entsprechende Ankündigungen gemacht. Die Evakuierungsaktionen waren jedoch meist gescheitert, wofür sich beide Seiten gegenseitig die Schuld gaben.
Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über eine diplomatische Beilegung des Konflikts sollen dem ukrainischen Unterhändler David Arachamia zufolge am Freitag per Online-Schalte fortgesetzt werden. Zuletzt hatten die Unterhändler am Dienstag in Istanbul in direkter Begegnung miteinander verhandelt, ohne dass ein Durchbruch erzielt werden konnte.
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