Ungleiche Brüder – ungleiche Wahlen
WIEN/BERLIN. Österreich und Deutschland wählen heuer knapp nacheinander ihre Parlamente neu. Doch ein Langzeitvergleich zeigt: Die Wahlkämpfe laufen zum Teil sehr unterschiedlich ab.
Als „ungleiche Brüder“ bezeichnen mitunter Historiker Österreich und Deutschland. Wie (un-)gleich die Staaten sind, wird sich auch heuer bei den Wahlkämpfen zeigen: Österreichs Bürger wählen am 29. September einen neuen Nationalrat, die Deutschen eine Woche zuvor einen neuen Bundestag. Die Studie „Wahlkampf in Deutschland und Österreich“ von Melanie Magin zeigt interessante Unterschiede:
1. Die wirkungsvollste Differenz zwischen deutschen und österreichischen Wahlkämpfen seit 1949 ist die Ausgangsposition: Denn im überwiegenden Teil der österreichischen Wahlkämpfe standen sich mit SPÖ und ÖVP große Parteien gegenüber, die gemeinsam in einer großen Koalition regiert hatten und eine Fortsetzung der Koalition absehbar war. Von 1945 bis 1966 liefen Wahlkämpfe hierzulande daher stark ritualisiert ab; mangels eines Regierungs-Oppositions-Gegensatzes zwischen den großen Parteien wurden ideologische Ängste bedient: Die ÖVP warf in ihren Kampagnen der SPÖ eine Nähe zum Kommunismus vor. Die SPÖ stellte die ÖVP auf Plakaten als bürgerlichen Kapitalisten dar. In der Bundesrepublik Deutschland gab es nur zweimal große Koalitionen auf Bundesebene (1966–1969 und 2005–2009).
2. Ein hoher Personalisierungsgrad war in deutschen Wahlkämpfen früher als in Österreich zu sehen: Der „Kanzlerbonus“ war in Deutschland oft größer, weil die je andere große Partei eben meist nicht an der Regierung beteiligt war. In den 50er-Jahren machte die Union die Wahlen zu einem „Kanzlerplebiszit“ über Konrad Adenauer, verstärkt durch Slogans wie „Keine Experimente!“ Allerdings kommt Melanie Magin auch zu dem Ergebnis, dass es einen Abnützungseffekt gibt: Je länger ein Kanzler im Amt ist, desto geringer wird sein Sichtbarkeitsvorsprung. Im Unterschied zu Deutschland kam in Österreich die Personalisierung später: Zunächst standen die Parteien im Vordergrund. Das änderte sich etwa ab Mitte der 60er- und in den 70er-Jahren – damals vor allem durch den „Medienkanzler“ Bruno Kreisky.
3. Österreich führte sehr viel früher als Deutschland das Fernsehduell der Spitzenkandidaten im Wahlkampf ein: Diese Neuerung kam schon beim ersten „Duell“ 1970 dem medial gewandten neuen SP-Chef Bruno Kreisky zugute. Ins Gedächtnis der Österreicher hat sich dann vor allem seine 1975 live übertragene Aufforderung an VP-Chef Josef Taus geheftet: „Nicht mich schulmeistern, Sie haben so eine gouvernantenhafte Art.“ Das erste TV-Duell in einer deutschen Bundestagswahl gab es erst 2002: Hier standen sich Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) gegenüber.
4. Eines der Wahlkampfthemen damals war die Weigerung Schröders, eine deutsche Beteiligung am erwartbaren US-Krieg gegen den Irak zuzulassen. Mit dem Slogan „Wer Frieden will, muss standhaft sein“, wollte die SPD auch 2005 daran anschließen. Denn Außenpolitik ist in Deutschland ein sehr viel stärkeres Wahlkampfthema als in Österreich. Das ist angesichts der Größe Deutschlands und seiner Einbindung in die NATO kein Wunder. Das relativ kleine und neutrale Österreich hat sich – mit Ausnahme der Kreisky-Jahre – außenpolitisch stets zurückgehalten. Entsprechend wenig Relevanz hatte Außenpolitik in den Wahlkämpfen. Dafür ist im Langzeitvergleich in österreichischen Wahlkämpfen die Sozialpolitik meist wichtiger als in Deutschland gewesen.
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Buchhinweis: M. Magin: „Wahlkampf in Deutschland und Österreich. Ein Langzeitvergleich der Presseberichterstattung.“ Böhlau-Verlag, 360 Seiten.