Triumph oder Tragödie: Neymar zieht die Extreme an
KASAN. Vor vier Jahren schied Brasiliens Superstar im WM-Viertelfinale schwer verletzt aus, heute (20 Uhr) will er gegen Belgien glänzen.
Auch wenn Neymars Flug-Show samt theatralischem und überspitztem Gehabe die Gemüter vieler erhitzt hat, darf sich Brasiliens Fußball-Star der Liebe seiner Fans sicher sein. Solange die "Seleção" auf der Erfolgswelle schwimmt, kann der 26-Jährige tun und lassen, was er will. Beim gestrigen Abschlusstraining vor dem heutigen Viertelfinale (20 Uhr, ORF eins) gegen Belgien in Kasan flogen Neymar dutzende Herzen und Luftballons (in Gelb und Grün) zu, der teuerste Kicker der Welt zeigte sich seinen Anhängern auf dem Weg zum Bus. Fit und gut gelaunt. Ob das gegen 22 oder 23 Uhr MESZ auch noch so sein wird?
310 Minuten ohne Gegentor
"Ich bin überzeugt davon, dass wir eine Mannschaft haben, die den Pokal holen kann", betonte Neymar, der seinem Land den sechsten WM-Titel in der Geschichte schenken möchte. Die Vorzeichen sind nicht so schlecht. Brasilien hat sich in Russland bis dato über weite Strecken von seiner Schokoladenseite präsentiert. Zu Buche stehen drei 2:0-Siege und nur ein Unentschieden (1:1 gegen die Schweiz). Offensiv zaubert Neymar in Personalunion mit Philippe Coutinho, Paulinho und Willian, defensiv lässt das Team von Tité kaum etwas anbrennen. Torhüter Alisson Becker ist bereits 310 Minuten ohne Gegentreffer.
"Wir sind stabil, das stimmt mich auch gegen Belgien zuversichtlich", sagte Teamchef Tité, der wieder auf Real Madrids Außenverteidiger Marcelo, nicht aber auf dessen gesperrten Klubkollegen Casemiro bauen kann. Den Platz des 26-Jährigen im zentralen defensiven Mittelfeld wird Fernandinho (33) von Manchester City einnehmen. Und bei jeder Möglichkeit Neymar bedienen, der mit einem WM-Viertelfinale seine schlimmste Karriere-Erfahrung verbindet.
Vor vier Jahren beim Heimturnier in Brasilien gewannen die "Zauberer vom Zuckerhut" zwar 2:1 gegen Kolumbien, doch Neymar schied schwer verletzt aus. Brutal niedergestreckt von Juan Camilo Zuñiga, der übrigens am Mittwoch 32-jährig seine aktive Laufbahn für beendet erklärt hat.
Neymar erlitt an diesem 4. Juli 2014 eine Fraktur des Querfortsatzes des dritten Lendenwirbels, mit dem Genie brach auch die Nationalmannschaft weg – 1:7 gegen Deutschland im Semifinale, 0:3 gegen die Niederlande im Spiel um Platz drei.
"Eine klare Verschwörung"
Auch heuer muss Neymar viel einstecken, 23 Mal wurde er bei dieser WM gefoult – so oft wie kein anderer. Die eine oder andere Schauspieleinlage hätte sich der Legionär von Paris Saint-Germain schenken können, er tendiert zum "sterbenden Schwan", der ausufernde Behandlungszeiten in Anspruch nimmt.
Der Exzentriker sieht das allerdings anders: "Die Kritik ist doch nur ein Versuch, mich zu untergraben. Sonst nichts. Eine klare Verschwörung", schimpfte Neymar: "Mir ist die Kritik egal, darum kümmere ich mich nicht. Ich will auch kein Lob einheimsen, sondern nur gewinnen."
Die Begegnung Brasiliens mit Belgien ist übrigens erst die zweite in der Historie. Das bis dato einzige Kräftemessen ging am 17. Juni 2002 – ebenfalls auf WM-Ebene – über die Bühne. Rivaldo (67.) und Ronaldo (87.) schossen die "Seleção" im Achtelfinale von Kobe (Jpn) zu einem 2:0-Sieg. Wenig später sollte Brasilien zum fünften Mal Weltmeister werden. Kein schlechtes Omen. (alex)
Neymars WM in Zahlen
14 Minuten: Die brasilianische Zeitung "O Globo" hat herausgestoppt: 360 Minuten spielte Neymar bei der WM bisher mit – oder auch nicht: 13 Minuten und 50 Sekunden davon lag er auf dem Rasen.
23 Fouls an Neymar wurden bei dieser WM gepfiffen, er selbst beging vier.
24 Schüsse gab er ab, die Hälfte davon trafen das Tor. Insgesamt verlor Neymar 43 Mal den Ball und eroberte sieben zurück.
170 Pässe bei 217 Versuchen kamen an.
18,4 Kilometer lief Neymar bei brasilianischem Ballbesitz, 12,6 bei gegnerischem. Beides sind für vier Spiele unterdurchschnittliche Werte.
Belgien ist die "Torfabrik" dieser Weltmeisterschaft
Brasilien sollte sich seiner Sache nicht zu sicher sein. Heute stellt sich im Viertelfinale von Kasan die Torfabrik dieser Fußball-Weltmeisterschaft in den Weg. Die Rede ist von den Belgiern, die in ihren vier Partien nicht weniger als zwölf Mal getroffen haben. Allein vier Goals gingen auf das Konto von Manchester-United-Stürmer Romelu Lukaku, bei der grandiosen Aufholjagd im Achtelfinale gegen Japan (von 0:2 auf 3:2) sprangen allerdings andere Leistungsträger in die Bresche.
Will heißen: Die "Roten Teufel" sind absolut unberechenbar und in der FIFA-Weltrangliste auf Position drei (unmittelbar hinter Brasilien) zu finden. Die Nummer eins, Deutschland, hat sich bekanntlich sang- und klanglos nach der WM-Gruppenphase verabschiedet.
Die "goldene Generation" der Belgier will heuer hoch hinaus, nachdem sie dem enormen Erwartungsdruck 2014 (WM) und 2016 (EM) nicht standgehalten hat. „Die Brasilianer sind zu favorisieren, aber wir müssen sie trotzdem schlagen“, sehnt Manchester-City-Ass Kevin de Bruyne das erste WM-Semifinale für sein Land seit 1986 herbei. Damals wurde Diego Maradona zum Stolperstein.