Wie matt ist der Schach-Weltmeister?
SINGAPUR. Titelverteidiger Ding Liren kämpft um seinen Titel und gegen die Erschöpfung.
Erstmals in der 138-jährigen Schach-WM-Geschichte ist der Kampf um den Titel ein asiatisches Kontinentalduell. Und auch die Ausgangsbasis beim Kampf zwischen dem chinesischen Titelverteidiger Ding Liren und seinem erst 18-jährigen indischen Herausforderer Dommaraju Gukesh, der gestern in Singapur eröffnet wurde, ist historisch einzigartig. Denn nie zuvor spielte ein Weltmeister derart in der Außenseiterrolle, wie es bei Ding der Fall ist.
Der 32-Jährige rutschte nach seinem Titelgewinn beim WM-Match 2023 gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi, geplagt von mentalen Problemen und Erschöpfungszuständen, in eine tiefe Krise. Als ehemaliger Seriensieger rangiert der Chinese in der Weltrangliste aktuell auf Platz 23, die Tendenz ist fallend. Bei Herausforderer Gukesh sind die Vorzeichen genau umgekehrt. In Budapest, beim letzten großen Test vor dem WM-Duell, holte er neun Punkte aus zehn Partien, in der Weltrangliste kletterte er auf Platz fünf – Tendenz steigend.
Mit acht schon ein Profi
Gukesh galt in Indien als Schach-Wunderkind. Seine Eltern – die Mutter ist Mikrobiologin, der Vater Chirurg – förderten ihren Sprössling mit voller Kraft. Im Alter von acht Jahren verließ Gukesh die Schule, um sich betreut von seinem Vater ausschließlich dem Schachsport zu widmen. Mit elf war er bereits Großmeister (als zweitjüngster Spieler in der Geschichte des Schachs), mit 18 ist er jetzt der jüngste Spieler eines WM-Duells. Gukesh gilt als selbstbewusst und entschlossen. "Gewinnen ist die einzige Sache, die zählt. Ich möchte wirklich der beste Spieler der Welt sein", sagte er vor dem Kampf um die WM-Krone. Der Inder ist auch bei der Wahl seiner Bücher äußerst erfolgsorientiert: Am liebsten liest er Biografien von großen Sportlern wie Muhammad Ali, Rafael Nadal oder Andre Agassi. Von ihnen könne man lernen, wie wichtig es sei, etwas wirklich zu wollen, sagte Gukesh.
Camus statt Nadal
Titelverteidiger Ding ist literarisch anders gestrickt. Statt sich von Sportlerbiografien inspirieren zu lassen, beschäftigt sich der Chinese mit den Werken des Philosophen Albert Camus. Auch sein Weg in die Schach-Elite war ein anderer. Er wählte keine Abkürzung durch ein frühes Profitum, sondern brachte zunächst seine Schulausbildung und ein Jus-Studium ins Ziel. Schon während des WM-Duells gegen Nepomnjaschtschi waren mentale Probleme des Chinesen augenscheinlich. Nach dem Sieg in der entscheidenden Partie blieb er weinend noch minutenlang am Brett sitzen, dann ging er für einige Monate auf Tauchstation. Später erzählte er offen, dass er erschöpft gewesen und in Depressionen gerutscht sei. Zweimal habe er eine Klinik aufgesucht. Außerdem sei er auf Medikamente angewiesen. Seinen Zustand vor dem WM-Duell beschrieb Ding kürzlich so: "Er ist weder besonders gut noch besonders schlecht, aber die schlimmsten Momente der vergangenen Monate habe ich mit Sicherheit hinter mir."
Erstes Duell an Ding
Dass die Titelverteidigung entgegen allen Prognosen doch kein Ding der Unmöglichkeit ist, wurde am gestrigen Eröffnungstag der WM deutlich. Der Titelverteidiger machte in der ersten Partie einen überraschend souveränen Eindruck und holte als Sieger den ersten Punkt. Die WM dauert maximal drei Wochen. Wer zuerst 7,5 Punkte gewonnen hat (1 Punkt für den Sieg; 0,5 Punkte für ein Remis), ist Weltmeister. Steht nach 14 Spielen kein Sieger fest, entscheidet ein Tie-Break mit verkürzter Bedenkzeit. Dotiert ist die WM mit 2,5 Millionen Dollar. Die Spieler erhalten pro Sieg 200.000 Dollar (ca. 190.000 Euro).
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