Aus dem Tunnel der Verwesung in die Realität
Wiener Staatsoper: Umjubelte Premiere von Manfred Trojahns "Orest" in der Interpretation von Regisseur Marco Arturo Marelli
Nicht zu Unrecht wurde Manfred Trojahns Oper "Orest" 2011 zur "Uraufführung des Jahres" gekürt, handelt es sich doch dabei um eine grauenhafte Geschichte, aus der eine überzeugende und restlos packende Oper entstanden ist. Am Sonntag fand die umjubelte Premiere in der Wiener Staatsoper statt. Trojahn hat das Schauspiel von Euripides auf ein Minimum destilliert und geht der Frage nach der Bewältigung von Schuld nach. Etwas, das 2011 brandaktuell war und auch heute im Zug einer rechtsradikalen Nationalisierung und der Gefahr des Auseinanderbrechens von Gesellschaften den Nerv trifft.
Regisseur und Ausstatter Marco Arturo Marelli sieht in seiner Inszenierung die traumatisierten Überlebenden des Krieges, die wie aus einem schwarzen Tunnel des Abgrunds in die Realität zurückgeworfen werden. Unfähig das Erlebte zu verarbeiten, klammert man sich an Götter und gesellschaftliche Regeln, die Gewalt mit Gewalt vergelten und Mord zum akzeptierbaren Mittel der rachedurstigen Genugtuung ethisch relativieren.
Ein starker Abgang
Wären nicht die Erinnyen, die als innere Stimmen den Muttermörder verfolgen und ihn, angestachelt durch einen falsch interpretierten Glauben, zum Weiterschlachten zwingen. Treibende Kraft dahinter ist Schwester Elektra. Doch einem Menschen kann er ohne Rachegefühle ins Gesicht blicken – Hermione, der Tochter der schönen Helena, die ihn dazu bringt, aus Glauben und Gesellschaft auszusteigen und sich so der Schuld zu entledigen. Ob mit Erfolg, bleibt offen, ist aber ein starker Abgang und bezwingender Schluss einer grandiosen Oper, die dort ansetzt, wo Richard Strauss’ "Elektra" aufhört. Trojahns Werk ist hochdramatisch, scheut sich nicht, weidlich in den Gefilden der Tradition zu grasen und eine moderne Musik zu schreiben, die nicht nur für das Orchester wunderbare Aufgaben bereithält, sondern auch den Sängern prachtvolle Partien zugesteht.
Michael Boder las genau diese Aspekte aus Trojahns Partitur heraus und erarbeitete mit dem fulminant aufspielenden Staatsopernorchester eine beeindruckende Interpretation, die vor allem den Solistinnen breiten Raum zur Entfaltung gab. Allen voran Evelyn Herlitzius als stimmgewaltige rachedurstige Elektra. In ihrem Schönheitswahn gefangen und die Wirklichkeit nicht erkennend, beeindruckte musikalisch und darstellerisch Laura Aikin als Helena. Audrey Luna ist als Hermione die Einzige, die die Realität sieht und dementsprechend extreme Passagen zu singen hat, was sie vorzüglich meisterte. Thomas Johannes Mayer ist ein vorzüglicher Orest mit großer Stimme, dem es allerdings manchmal an artikulatorischer Durchschlagskraft fehlte. Daniel Johansson verkörperte überzeugend die mutierenden Götter Apoll und Dionysos, während Thomas Ebenstein als Menelaos eher blass blieb.
Fazit: Ein hochspannender 80-minütiger Opernabend, der Trojahns Werk szenisch treffend und musikalisch packend in Szene setzt.
Oper: Premiere von Manfred Trojahns "Orest", Regie: Marco Arturo Marelli, Staatsoper Wien, 31. März