Der musizierende Literatur-Maler
Gerhard Rühm: Heute wird der Mitbegründer der Wiener Gruppe 90 Jahre alt.
Den Begriff "crossover" dachten sich Kulturwissenschafter erst Jahre später aus, nachdem Gerhard Rühm die Fäden unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen schon längst zu etwas Neuem geflochten hatte. Hörspiele, konzeptuelle Zeichnungen, Fotomontagen, auditive wie visuelle Poesie, Chansons, Melodramen – die Liste seines Schaffens ist lang, doch greift sie in ihren Versuchen, Rühm auf Schubladen zu verteilen, stets zu kurz. Zusammen mit Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Oswald Wiener und seinem literarischen Geburtshelfer H. C. Artmann gründete der 1930 geborene Sohn eines Wiener Philharmonikers 1954 die Wiener Gruppe. Rühm sei deren "Mutter" gewesen, sagte Ernst Jandl. Heute feiert der künstlerische Experimentierer und weiterhin hochproduktive Tausendsassa seinen 90. Geburtstag. Vergangene Woche las Rühm in der Alten Schmiede in Wien aus seinem jüngst erschienenen Band "hero liest grillparzer / leander lernt schwimmen".
Rühm studierte Klavier und Komposition an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst. Die Antworten auf die Radikalität, mit der die Wiener Gruppe ihre Varietäten von Konkreter Poesie auf die Bühne brachte, vertrieb ihn schließlich aus Österreich. Wegen seiner Kleinschreibung wollte ihm die österreichische Öffentlichkeit in den frühen 60er-Jahren "die Finger zerquetschen", und in Zuschriften nach einer Radiosendung hieß es – begleitet von einer Medienkampagne des kleinformatigen Boulevards – "ich müsse ein Saujud sein, denn was ich mache, könne nur von einem Juden stammen, der durch den Rost gefallen ist", sagt Rühm.
1964 verließ er Österreich und wurde von der Avantgarde in Deutschland mit offenen Armen empfangen. Zuerst in Berlin, später in Köln, ab 1972 unterrichtete er als Professor an der Universität für bildende Künste in Hamburg. Im Unterschied zu seinen sprachanalytischen Anfängen setzte sich Rühm in seinen Texten ab den 70er-Jahren mit Lebensbedingungen auseinander. Wie in seinem 1983 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneten Hörspiel "Wald – Ein deutsches Requiem" kamen vor allem ökologische Themen wie das Waldsterben zur Sprache. Als bildender Künstler konzentrierte er sich auf Zeichnung und Fotomontage. Seine etwa von Liednotationen unterlegten Musikgrafiken bezeichnete er als "visuelle Musik".
Neben vielen Einzelausstellungen waren seine Arbeiten u. a. im Amsterdamer Stedelijk Museum, auf der documenta 1977 und 1987 in Kassel und in der Frankfurter Kunsthalle Schirn vertreten.
Handke? Manieriert weinerlich!
Die Kritik ewiggestriger Abendlandbeschützer blieb in Österreich das Nebengeräusch von Rühms Kunst. Und dennoch kommt er immer wieder nach Wien zurück, in die leerstehende ehemalige Wohnung seiner Eltern in der Westbahnstraße.
Gespräche mit Rühm haben gute Chancen auf Boden- und Grenzenlosigkeit. All seinen Kunstformen liegt Musik zugrunde, sogar seine Sprache wogt im so speziellen Rühm-Takt. Er dichtete für Helmut Qualtinger, mit Friederike Mayröcker ist er seit 60 Jahren eng befreundet, und er hält Büchner-Preisträger Josef Winkler für eine der wichtigsten literarischen Stimmen Österreichs. Die Prosa von Nobelpreisträger Peter Handke lehnt er ab. Warum? "Das hat für mich etwas manieriert Weinerliches. Jörg Drews hat aufgrund eines Buches von Handke den schönen Titel gewählt: Die neue Weinerlichkeit", sagt Rühm. "Und weinerlich wollte ich nie sein."