Von null auf zweitausend
Lavendelduft und Bergluft: Nizza hat eine urige Kehrseite. Hinter der Stadt an der Côte d’Azur erhebt sich eine wildromantische Gebirgslandschaft, die sich mit Wanderschuhen und E-Bikes erkunden lässt.
Es musste schnell gehen. Sie bretterten die Piste hinunter, verstauten ihre Skier im Kofferraum und tauschten die Winterjacken gegen Neoprenanzüge. Von gut 2000 Metern Höhe ging es hinunter ins Tal – zum Meer. Dort brausten der blutjunge Sauveur und seine Freunde mit zwei Brettern über das azurblaue Wasser. "Es war ein Abenteuer, eine kleine Herausforderung", sagt der inzwischen ergraute Chauffeur, während er die Serpentinenstraße zum Alpenort Isola 2000 hochfährt. "Aber wenn man die Möglichkeit hat, an einem Tag auf der Piste und auf dem Meer zu fahren, warum nicht?"
Sauveur ist ein Glückspilz. Er ist dort aufgewachsen, wo andere ihren Urlaub verbringen. In Nizza. Die Stadt an der Côte d’Azur ist bekannt für ihre weitläufige Strandpromenade, die blaue Sitzbänke und prächtige Palmen zieren, sowie für ihre bunten Gebäude und ihr mildes Klima. "Es ist das mediterrane Lebensgefühl", sagt Anne Berthelot vom Tourismusbüro Nizza Côte d’Azur. "Das Essen, das Meer, die Berge – das macht diese Region so besonders."
Ein Spaziergang auf dem Küstenabschnitt des "Lou Camin Nissart" zeigt Nizza in all seinen Facetten. Der markierte Rundweg erstreckt sich auf insgesamt gut 42 Kilometer und führt entlang von Klippen, Wäldern und Aussichtspunkten wie dem Mont-Boron-Hügel. Auf dessen Pfaden sieht man links die französische Mittelmeerküste, rechts die Gipfel der Südalpen und aus der Vogelperspektive die terrakottafarbenen Dächer der 350.000-Einwohner-Stadt. Dieser reizende Ausblick dürfte es auch Elton John angetan haben. Wer den gelb-roten Stickern folgt, erhascht einen Blick auf das Urlaubsdomizil des britischen Superstars. Villen und Jachten finden sich zwischen Monaco und Saint-Tropez wie Kieselsteine am Meer. Hinter der Fassade tut sich eine völlig konträre Welt auf. Eine Welt fernab des Jetset. Mit seinen entzückenden Bergdörfern, den wild wachsenden Kräutern und steilen Felswänden ist das Hinterland von Nizza ein Mekka für Naturliebhaber und Aktivurlauber.
Der Wächter über dem Dorf
"Frost gibt es hier das ganze Jahr über nicht", sagt Bergführerin Lisa während einer Wanderung auf ihren Hausberg. Der Felsen thront 400 Meter über dem mittelalterlichen Dorf Saint-Jeannet nahe dem Künstler-Eldorado Vence. Seine markante Silhouette ist in der Nizza-Region allgegenwärtig. Selbst in den Weinbergen auf der gegenüberliegenden Seite des Var-Tals ist der "Baou de Saint-Jeannet" stets präsent.
Seine Flanke zählt zu den ersten erschlossenen Kletterrouten in den Alpen. Weniger anspruchsvoll ist der Pfad, der sich auf das Plateau des sogenannten "Baou" schlängelt. "Das ist ein altes Wort und bedeutet felsiger Berg", erklärt Lisa und deutet auf einen großen Kalkstein am Wegesrand. Bei genauem Hinsehen offenbart sich ein weiteres Stück Geschichte: Die Buchstaben "RIP" (zu Deutsch: "Ruhe in Frieden") sind in dem Gestein eingraviert. Was es damit auf sich hat, ist bis heute ein Rätsel. Die Einheimischen spekulieren, dass die Gravuren aus dem 14. Jahrhundert stammen und einem verstorbenen Hirten gewidmet worden waren. Der Berg diente einst als Lebensraum zahlreicher Schafherden. Futter und Heu wurden auf Rädern zu den Tieren transportiert.
Miraculix, bist du es?
An dem breiten, mit Steinen abgesicherten Weg erfreuen sich nun die Wanderer. Beim Auf- und Abstieg werden sie außerdem mit einem Fernblick zum Meer und dem Duft mediterraner Kräuter belohnt. Von Thymian und Bohnenkraut bis hin zu Minze und Lavendel. Sie sind das Spezialgebiet von Christophe Cottereau, der im 200-Einwohner-Dörfchen La Tour sur Tinée meist mit herzlichem Lächeln und ohne Leiberl anzutreffen ist. Bekannt ist der Franzose aber für seine ätherischen Öle und Seifen. Er wollte zu einem einfacheren und gesünderen Leben zurückkehren, sagt der gelernte Umweltingenieur. Jetzt ist die Natur sein Arbeitsplatz. Christophe hält einen Beutel in seiner Hand, als er am frühen Morgen den Dorfplatz ansteuert. "Bonjour", ruft er und packt seine Mitbringsel aus. Die kleinen Fläschchen sind mit dem Etikett "Lavendelöl, 1800 Meter Höhe" versehen. All seine wertvollen Rohstoffe erntet der Kräuterbauer in alpinen Lagen. In Miraculix-Manier zaubert er natürliche Heil- und Duftmittel, quasi vor seiner Haustüre.
Christophes Heimatort La Tour sur Tinée liegt auf einem Bergkamm über dem Tinée-Tal. Ein achteckiger Brunnen auf dem gepflasterten "Grand Place" bildet das Zentrum, rundherum spielt sich das Dorfleben ab. Beim Greissler mit Gastgarten oder beim Hotel, das die Einheimischen vor allem wegen seiner ausgezeichneten Küche schätzen. Die Ruhe und Wärme, die der Ort ausstrahlt, ziehen auch Auswärtige schnell in ihren Bann. "Das hatte ich gesucht", sagt eine ältere Dame auf Hochdeutsch. Drei Jahrzehnte ist es her, dass die Münchnerin im nizzanischen Hinterland eine neue Heimat gefunden hat. Mit ihren 81 Jahren zählt sie mittlerweile zu den älteren Bewohnern. "Das Dorf wächst. Es ziehen viele junge Leute her", sagt Vizebürgermeister Sylvain Pavesio.
Weg vom Wirbel, hinauf in die Idylle. Danach sehnen sich auch Touristen, die zwischen Sightseeing und Strand einen sportlichen Ausgleich suchen – zu Fuß oder auf Rädern.
Mit dem Rad nach Italien
Diesmal fährt Sauveur nicht zum Skifahren nach Isola 2000. Seine Reisegäste haben ein anderes Ziel anvisiert: Italien. Der Col de la Lombarde markiert die Staatsgrenze, die rund 350 Höhenmeter oberhalb der Seilbahnstation liegt. Abseits der Wintersaison rollen über die Passstraße die unterschiedlichsten Räder: Motorradfahrer und Profisportler – die Tour de France hatte den Pass erstmals 2008 überquert – genauso wie E-Biker. Angesichts der Flora und Fauna lohnt es sich, einen Gang runterzuschalten und Augen und Ohren offen zu halten.
Garnelen im Après-Ski-Flair
Es pfeift, es raschelt. Eine Murmeltierfamilie beobachtet die Radlergruppe. Sofort werden Handys und Kameras gezückt. Philippe grinst. Als Guide im Nationalpark Mercantour begegnet er den scheuen Nagern nicht selten, ebenso Gämsen und Steinböcken. Die Etappe zum Grenzpass bietet einen Vorgeschmack auf die nizzanische Wildnis: Dreitausender, umgeben von saftigem Grün, Geröll und einem ausgedehnten Wegenetz.
Die Frischluft auf knapp 2400 Metern Höhe geht unter die Haut. Nach der Abfahrt kommt die Mittagseinkehr gerade recht. Das auserwählte Lokal gleicht einer Après-Ski-Hütte. Lichterketten baumeln vom Giebeldach und schmücken die hölzerne Fassade. Erst die Speisekarte macht deutlich, dass man sich nicht auf einer österreichischen Skihütte, sondern in Meeresnähe befindet: Statt deftigen Kasnockn werden Königsgarnelen und Calamari serviert. Es ist eine kulinarische Einstimmung auf einen Nachmittagsausflug zum Plage Mala, einer romantischen Strandbucht an der Grenze zum Fürstentum Monaco. Dort angekommen, werden die Sporthosen und Turnschuhe gegen Bikinis und Badeschlapfen getauscht. Eine Tagestour auf den Spuren von Chauffeur Sauveur, nur ein bisschen anders.
Nizza
Die Region Nizza Côte d’Azur besteht zu 80 Prozent aus Gebirgslandschaft und wird in Küsten-, Mittel- und Hochland unterteilt.
Mehr als eine halbe Million Menschen – 563.000 – leben in Nizza und seinem Umland. Fünf Millionen Touristen besuchen die Region pro Jahr. Die Großstadt, die in der Landessprache „Nice“ heißt, ist die fünftgrößte Stadt Frankreichs, ihre Mittelmeerküste ist zehn Kilometer lang, davon werden 7,5 Kilometer als Strand genutzt. Die Entfernung zum Fürstentum Monaco beträgt etwa zehn Kilometer, zur italienischen Grenze sind es 30 Kilometer.
Die Low-Cost-Fluglinie WizzAir fliegt ab Frühling regelmäßig von Wien nach Nizza. Ab April sind drei Flüge pro Woche geplant – dienstags, donnerstags und samstags. wizzair.com