AKW Saporischschja: Betreiber warnt vor Austritt von Radioaktivität
KIEW/MOSKAU. Seit einigen Wochen wird das größte Atomkraftwerk Europas immer wieder beschossen. Dadurch ist die Infrastruktur beschädigt.
Europas größtes Atomkraftwerk, das AKW Saporischschja, steht in der Ukraine. Doch seit März ist die Anlage mit sechs Reaktoren am Ufer des Flusses Dnjepr von russischen Soldaten besetzt. Dennoch hielten ukrainische Techniker das Kraftwerk stets am Laufen. Zuletzt arbeiteten aber nur noch drei bzw. zwei Reaktoren – und nur eine funktionierende Leitung versorgte Teile der Südukraine mit Strom.
Schuld daran war anhaltender Beschuss über mehrere Wochen – für den sich Moskau und Kiew gegenseitig die Schuld zuschieben. Einigkeit herrschte nur am Donnerstag, als es hieß, die Anlage sei vom Netz gegangen. Am Freitag gab es dann ein erstes Aufatmen: Einer der sechs Reaktoren ist laut der Betreibergesellschaft wieder am ukrainischen Netz. Der Reaktor baue Kapazität auf, teilte der ukrainische Staatskonzern Energoatom mit.
Die Ukraine und weite Teile Europas sind damit laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nur knapp einer nuklearen Katastrophe entgangen. Das AKW sei mehrere Stunden vom Netz getrennt gewesen, was zu einem Super-GAU hätte führen können, sagte Selenskyj.
Anlage erneut beschossen
In dem Atomkraftwerk besteht nach Angaben des Betreibers allerdings das Risiko des Austritts von Radioaktivität. Die Anlage sei erneut "mehrmals" beschossen worden, teilte der staatliche ukrainische Energiekonzern Energoatom am Samstag mit. Dadurch sei die Infrastruktur des größten Atomkraftwerks Europas beschädigt worden. Nach Angaben des Betreibers lief das Akw gegen Samstagmittag "mit dem Risiko, Radioaktivitäts- und Feuerschutz-Standards zu verletzen".
Seit einigen Wochen werden die Gegend des Akw Saporischschja und auch Teile des Werksgeländes immer wieder beschossen, die Ukraine und Russland machen sich gegenseitig dafür verantwortlich. Erst am Freitag war das Kraftwerk nach eintägiger Unterbrechung wieder ans ukrainische Stromnetz angeschlossen worden. Zuvor waren alle sechs Reaktoren nach Angaben von Energoatom vom ukrainischen Stromnetz genommen worden.
In einer Videoansprache in der Nacht auf Samstag warnte Selenskyj vor weiteren Notsituationen: "Ich möchte betonen, dass die Situation sehr riskant und gefährlich bleibt. Jede Wiederholung (...) wird das Kraftwerk erneut an den Rand einer Katastrophe bringen." Einmal mehr forderte er einen baldigen Besuch internationaler Experten sowie den Rückzug der russischen Truppen von dem AKW-Gelände, das diese seit März besetzt halten.
Video: Peter Friz aus der ORF-Auslandsredaktion erklärt, weshalb der Notfall im besetzten Atomkraftwerk Saporischschja sowohl von der Ukraine als auch von Russland für Propagandazwecke genutzt werden kann.
Das Atomkraftwerk wird seit März von russischen Truppen besetzt, aber weiterhin von ukrainischen Technikern betrieben. "Russland hat die Ukraine und alle Europäer in eine Situation gebracht, die nur einen Schritt von einem atomaren Desaster entfernt war", sagte Selenskyj. "Jede Minute, die die russischen Truppen noch in dem nuklearen Kraftwerk bleiben, ist ein Risiko für eine globale atomare Katastrophe." Die Anlage ist in den vergangenen Wochen mehrfach unter Beschuss geraten. Russland und die Ukraine geben sich dafür gegenseitig die Schuld. Reuters kann die Angaben unabhängig nicht überprüfen.
Wladimir Rogow, ein von Russland ernannter Beamter in der besetzten Stadt Enerhodar in der Nähe des Kraftwerks, machte die ukrainischen Streitkräfte für den jüngsten Vorfall verantwortlich. Sie hätten ein Feuer in einem Wald in der Nähe des Kraftwerks verursacht. Die Städte in der Gegend seien mehrere Stunden lang ohne Strom gewesen, schrieb Rogow auf Telegram. Wie Selenskyj fordern auch westliche Staaten, dass Russland die Kontrolle über das AKW wieder an die Ukraine übergibt, was die Regierung in Moskau zurückweist. Zudem soll die Internationale Atomenergie-Agentur IAEA die Meiler inspizieren, was Russland in Aussicht gestellt hat.