Russische Truppen sind in Kiew eingedrungen
KIEW. Die russischen Truppen haben bei ihrem Angriff auf die Ukraine nach eigenen Angaben die ukrainische Hauptstadt von Westen her blockiert. Zudem waren im Zentrum, unweit des Regierungsviertels, Schüsse zu hören.
Der strategisch wichtige Flugplatz Hostomel nordwestlich von Kiew sei eingenommen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitag der Agentur TASS zufolge mit. Dabei seien 200 Ukrainer "neutralisiert" worden. Eigene Verluste gebe es nicht, behauptete das Ministerium.
Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung. Zuletzt hatte die Führung in Kiew mitgeteilt, Angriffe auf Hostomel zurückgeschlagen zu haben. Dabei hätten die russischen Truppen schwere Verluste erlitten. Das ukrainische Verteidigungsministerium teilte mit, bisher seien insgesamt mehr als Tausend russische Soldaten in Kämpfen in der Ukraine getötet worden.
Den russischen Angaben zufolge blockieren russische Truppen zudem die Stadt Tschernihiw unweit der Grenze zu Belarus. Die ukrainische Armee kämpft nach eigenen Angaben mittlerweile gegen vordringende russische Truppen in der Hauptstadt Kiew. Im nördlichen Bezirk Obolon kam es am Freitag zu Gefechten. Auch Explosionen waren dort zu hören, wie ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Medienberichten zufolge waren zudem später Schüsse in der Nähe des Regierungsviertels im Zentrum zu hören. Das meldet die russische Agentur RIA Nowosti unter Berufung auf die amerikanische AP.
Russland hatte am Donnerstagmorgen mit einem großen Angriff auf die Ukraine begonnen. In mehreren Städten schlugen Raketen und Artilleriegranaten ein. Russische Bodentruppen waren anschließend binnen weniger Stunden bis in den Großraum Kiew vorgedrungen. Luftlandetruppen nahmen einen Militärflughafen am nordwestlichen Stadtrand von Kiew ein. Laut dem ukrainischen Innenministerium hat Russland in den letzten 24 Stunden auch 33 zivile Ziele getroffen. Zwei Kinder seien getötet worden.
Explosionen in der Stadt
Mit Blick auf zwei Orte im Nordwesten der Hauptstadt sagte der Militärsprecher Olexij Arestowytsch am Freitag vor Journalisten: "Dort gibt es jetzt schon Kämpfe." Kiew selbst bereite sich auf Verteidigung vor. Die ukrainische Armee habe "einige" russische Hubschrauber und Militärtechnik zerstört. Solche Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.
Von den Explosionsorten in Obolon rannten Menschen weg, um sich in Sicherheit zu bringen. Schüsse waren dem AFP-Reporter zufolge dort zu hören und bis ins Stadtzentrum auch größere Explosionen. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums handelte es sich um eine Sabotageaktion eines russischen Aufklärungstrupps. Das Ministerium rief die Zivilisten in dem Viertel zu den Waffen. "Wir bitten die Bürger, uns über feindliche Bewegungen zu informieren, Molotowcocktails zu werfen und die Besatzer zu neutralisieren", hieß es in einer Erklärung auf Facebook. Später hieß, es die Bevölkerung solle die Straßen von Obolon meiden: "Im Zusammenhang mit der Annäherung aktiver Feindseligkeiten werden die Bewohner des Obolon-Bezirks gebeten, nicht nach draußen zu gehen."
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Tötung Selenskyjs sei Russlands Ziel
Das ukrainische Fernsehen berichtete am Freitag auch von Fliegalarm in Kiew in der Früh. Die Stadtverwaltung rief alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich möglichst in Sicherheit zu bringen. Die U-Bahn-Stationen der Stadt mit etwa 2,8 Millionen Einwohnern dienten als Schutzräume. Es gebe falsche Berichte, dass er Kiew verlassen habe, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Ich bleibe in der Hauptstadt, bleibe bei meinem Volk." Russland strebt nach Angaben eines Beraters von Selenskyj die Einnahme von Kiew an, und Selenskyj solle getötet werden, sagt Mychailo Podoljak. Das sei das einzige Ziel der russischen Aktion.
Am Freitagmorgen hatte die ukrainische Armee nördlich von Kiew auch Kämpfe gegen vordringende russische Truppen gemeldet. Zu Gefechten kam es demnach in den Orten Dymer, das rund 45 Kilometer nördlich von Kiew liegt, sowie Iwankiw, rund 80 Kilometer nördlich der Hauptstadt. Dort sei "eine große Anzahl von Panzern des Feindes eingetroffen".
Später teilten die ukrainischen Streitkräfte mit, der Vormarsch der russischen Truppen sei am Fluss Teterow gestoppt worden. "Die Brücke über den Fluss wurde zerstört." Das ukrainische Militär eroberte zudem nach Angaben des Generalstabs einen Militärflugplatz in Gostomel nahe Kiew zurück.
Raketenangriffe am Freitagmorgen
Russland hat am Freitag in der Früh auch die Raketenangriffe auf die Ukraine wieder aufgenommen. Beschossen würden sowohl zivile als auch militärische Ziele, teilte Präsident Selenskyj in einer im Fernsehen übertragenen Rede mit. So griffen Medienberichten zufolge russische Truppen etwa auch den Flughafen der Stadt Riwne im Westen des Landes an. Auch aus Sumy im Nordosten des Landes nahe der russischen Grenze wurden Kämpfe gemeldet. Diese Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Laut ukrainischem Grenzschutz gab es mehrere Tote durch Raketenbeschuss auf einen seiner Posten im Süden des Landes am Asowschen Meer. Der Ort Primorskyj Posad liegt an der Küste zwischen der von Russland annektierten Halbinsel Krim und dem ostukrainischen Separatistengebiet. Das ukrainische Militär geht davon aus, dass die russische Armee einen Korridor zwischen beiden Gebieten erobern will. In der westukrainischen Stadt Lwiw schrillten nach Augenzeugenangaben die Sirenen. Die ukrainische Darstellung, dass auch Kiew mit Raketen angegriffen wurde, wies Moskau zurück.
Unklarheit über Strahlungswerte bei Tschernobyl
Nach der Eroberung des früheren Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine sichern russische Fallschirmjäger das Gelände. Auch Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons seien nach Absprache weiter im Einsatz, sagte ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums am Freitag. Es gebe keine Auffälligkeiten, die radioaktiven Werte seien normal, sagte er. Hingegen teilte die zuständige ukrainische Behörde mit, sie messe deutlich erhöhte Strahlenwerte.
Wegen der Lage und der Kämpfe sei es aber unmöglich, eine Begründung für diesen Anstieg zu erkennen. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) äußerte sich am Freitagvormittag zunächst nicht.
Russische Truppen hatten die Sperrzone um die 1986 havarierte Atomruine im Norden der Ukraine am Donnerstag erobert. Wegen der Kämpfe um Tschernobyl berief die tschechische Atombehörde vorsichtshalber einen Krisenstab ein. Bisher seien alle Radioaktivitätsmesswerte im normalen Bereich, teilte ein Sprecher der Behörde SJUB am Freitag in Prag mit.
Die Experten rechnen derzeit nicht mit einer Gefährdung weiter entfernter Gebiete. Eine Aufwirbelung radioaktiver Stoffe sei zwar denkbar, eine ernsthafte Kontamination mit Radionukliden außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone aber unwahrscheinlich.
In Tschernobyl war es zu Sowjet-Zeiten 1986 zu einer der schlimmsten Katastrophen bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie kommen. Aufgrund der damaligen Witterungsverhältnisse zählte die damalige Tschechoslowakei zu den am stärksten betroffenen Gebieten. Bis heute sind Wildschweine aus dem Böhmerwald (Sumava) und viele in der Natur gesammelte Pilze leicht radioaktiv belastet. Es gelten entsprechende Grenzwerte.
Zahlreiche Tote und Verletzte
Am ersten Tag der russischen Invasion haben laut Selenskyj 137 Soldaten ihr Leben verloren. Insgesamt 316 Soldaten seien am Donnerstag verletzt worden, sagte er in der Nacht in einer Videobotschaft. Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen ihrerseits schwere Verluste. Das Verteidigungsministerium in Kiew sprach von 30 zerstörten russischen Panzern, 130 Panzerfahrzeugen, sieben Flugzeugen und sechs Hubschraubern. Etwa 800 russische Soldaten seien getötet worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Die russische Seite äußerte sich dazu nicht.
Selenskyj kritisierte mangelnde Unterstützung aus dem Ausland: "Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte der Welt schauen aus der Ferne zu." Auch die neuen westlichen Strafmaßnahmen gegen Moskau seien nicht genug. Selenskyj bat die osteuropäischen NATO-Mitglieder um Unterstützung bei der Verteidigung. Er habe diesbezüglich mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda gesprochen, schreibt Selenskyj auf Twitter. Er habe auch um Hilfe gebeten, Russland an den Verhandlungstisch zu bringen. "Wir brauchen eine Anti-Kriegs-Koalition."
Gleichzeitig lobte der Staatschef die Ukrainer für ihren "Heldenmut" angesichts des russischen Vormarsches. Die russische Bevölkerung rief Selenskyj zum Protest gegen den Angriff auf die Ukraine auf. Das Staatsoberhaupt hat ein Dekret zur Generalmobilmachung unterschrieben, meldete die Agentur UNIAN unter Berufung auf das Präsidialamt in Kiew. Die Anordnung gilt demnach 90 Tage und sieht die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vor. "Wir müssen operativ die Armee und andere militärische Formationen auffüllen", begründete Selenskyj eine Entscheidung. Bei den Territorialeinheiten werde es zudem Wehrübungen geben. Nach ukrainischen Behördenangaben dürfen zudem männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen.
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