Jedem Anfang wohnt ein Schauder inne
Eine neue Beziehung, eine neue Arbeitsstelle, ein neues Ziel oder schlicht ein neues Jahr: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, schrieb Hermann Hesse. Doch jeder Anfang ist schwer – aber auch der geht vorbei. Eine Betrachtung.
Es blühen die Schneerosen, bald künden die Palmkätzchen vom Anfang des Frühlings. Was schlicht den Beginn einer neuen Vegetationsperiode bezeichnet, lässt Menschen mit Restbeziehung zur Natur nicht kalt. Der Anblick der ersten Biene des Jahres, des ersten Schmetterlings rührt nur den Rohen nicht. Die Empfindsamen spüren den Zauber, der jedem Anfang innewohnt.
Jedem? Als der deutsch-schweizerische Schriftsteller Hermann Hesse (1877–1962) die zum geflügelten Wort verkommenen Zeilen in seinem Gedicht "Stufen" schrieb – "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben" – hatte er weniger die kleinen als die großen Umwälzungen des Lebens im Sinn, die Stufen auf der Alterspyramide: Diese solle man "Raum für Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen". Denn: "Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen".
Diesen Stufenprozess eines Menschenlebens sieht Hesse keineswegs mit dem Tod abgeschlossen ("Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!").
Wir sind Wanderer auf Erden
Germanisten sehen eine Verwandtschaft des Hesse-Gedichts mit Nietzsches Werk "Menschliches, Allzumenschliches". Darin heißt es. "Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe."
Hesse selbst, der über eine schillernde Biografie verfügte, lässt sich schwer festmachen. Man könne ihn weder nur als Rebell, Buddhist, als Anhänger des fatalistischen Laotse noch als späten Konvertiten zum Christentum rubrizieren, sagte der deutsche Schriftsteller Volker Michels (80), der die Hesse-Publikationen des Suhrkamp Verlags betreute, in einem Interview. "Das alles sind Stufen, Stationen seiner Entwicklung."
Vielleicht war Hesse ja auch das Werk des österreichischen Dramatikers Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) nicht ganz unbekannt, der schrieb: "Das ganze Leben ist ein ewiges Wiederanfangen."
Von Anfang an kommt’s auf den Anfang an
So mancher Anfang tritt mit Vehemenz auf. „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott“, heißt es in der Bibel. Goethes Dr. Faust übersetzt die Stelle forsch neu in „Am Anfang war die Tat“. Jean-Jacques Annauds Steinzeit-Abenteuerfilm war betitelt mit „Am Anfang war das Feuer“, und Hoimar von Ditfurths Wissenschaftsklassiker hieß „Am Anfang war der Wasserstoff“. All das wird relativiert vom Volksmund im Friaul, der sagt: „Am Anfang war auch der Teufel ein Engel.“ Und seit dem „Anhalter durch die Galaxis“ aus der Feder des britischen Satirikers Douglas Adams ist ohnehin klar: „Am Anfang wurde das Universum erschaffen. Das machte viele Leute sehr wütend und wurde allenthalben als Schritt in die falsche Richtung angesehen.“
Es kommt beim Anfangen also auf den Kontext an. Etlichen Anfängen wohnt kein Zauber inne: nach einer Trennung oder einem Todesfall, nach einem Verlust des Arbeitsplatzes oder nach einem Unfall, einer Operation oder nach schwerer Krankheit (siehe Interview unten). Doch auch wenn auf den ersten Blick ein Anfang kaum möglich erscheint, gibt es Menschen, die dennoch eine Perspektive finden. Man erinnere sich an die Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Einen guten Anfang machen
Mehr oder weniger ist auch heute jeder einschneidende Anfang ein großes Wagnis. Kleiner wird es, wenn es Menschen gibt, die einen dabei begleiten, die Solidarität zeigen. Man male sich aus, wie es jemandem geht, der auf der Flucht ist und in einer neuen Heimat alleine neu anfangen muss.
„Die einzige Freude auf der Welt ist das Anfangen. Es ist schön zu leben, weil leben anfangen ist, immer, in jedem Augenblick“, schrieb der italienische Schriftsteller Cesare Pavese. Er nahm sich 42-jährig das Leben.
Es ist wohl so, dass man im Leben mit sich selbst irgendwann einen guten Anfang machen sollte, oder wie Oscar Wilde schrieb: „Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.“
Mystik und Geist erscheint in Kooperation zwischen den OÖNachrichten und der Katholischen Kirche in Oberösterreich.
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