Harry Merl: Wie er als Kind die Novemberprogrome überlebte
GRAMASTETTEN. Als vierjähriger Bub er- und überlebte Harry Merl die Novemberpogrome.
Als Kind jüdischer Eltern wurde Harry Merl 1934 in Wien geboren. Seine Kindheit begann glücklich, doch mit den Novemberpogromen in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 änderte sich das Leben der Familie schlagartig.
OÖNachrichten: Welche Erinnerungen haben Sie an diese Nacht?
Harry Merl: Auf dem Boden sitzend hörten wir Radio. Eine dumpfe Spannung lag in der Luft. Es wurde an die Tür gehämmert: "Aufmachen!" Mein Vater öffnete die Tür und versteckte sich dahinter. Die Männer stürmten ins Haus, mein Vater schlüpfte hinaus. Ich schrie: "Papa, Papa!" Er kam zurück, hob mich auf, und wir sind raus. Das war der Anfang. Ich war damals nicht ganz vier Jahre alt.
Wie haben Ihnen Ihre Eltern erklärt, warum alles anders ist?
Meine Eltern haben mir nichts erklärt, das war die ganze Zeit so. Ich habe keine Fragen stellen können, ich bin nur mitgetrottet.
Weil Ihre Eltern gearbeitet haben, waren Sie viel allein. Wie haben Sie Ihre Zeit verbracht?
Ich habe sehr viel beobachtet. Einmal sah ich einen Aufmarsch der Hitlerjugend. Und ich hatte das Gefühl, da gehöre ich nicht dazu. Das war lange stark in mir: Ich bin nichts, und ich darf nichts sein.
Ihre Eltern überlebten, weil sie eine zynische Arbeit verrichteten: die Auflösung jüdischer Wohnungen. Haben Sie Ihre Eltern einmal gefragt, wie es ihnen damit ging?
Es wurde nicht darüber geredet, und wenn ich einmal etwas gefragt habe, hat es geheißen: Lass uns in Ruh’. Mein Enkel Pascal war es, der neugierig war. Dadurch fing ich an, darüber zu sprechen. Bis dahin hatte ich es vermieden, mich mit der Zeit zu beschäftigen.
Wie erklären Sie sich das?
Ich wollte mein Leben nach dem Krieg so gut wie möglich leben. In die Schule gehen, lernen. Es war mir lieber zu lachen, als nachzudenken.
Durch die Arbeit Ihrer Eltern entgingen Sie der Deportation, aber wirkliche Sicherheit gab es nicht.
Nein, denn schließlich sollte die Reihe auch an uns kommen. Deshalb versteckten wir uns im Jänner 1945 in einem Kohlenkeller. Eigentlich hatte meine Mutter die Absicht, uns umzubringen, sobald das Signal zur Deportation kommt. An einem der vielen Tage, die ich allein in der Wohnung verbrachte, habe ich Medikamente entdeckt und sofort gewusst, dass die für Selbstmord sind.
Woher wussten Sie das als etwa zehnjähriges Kind?
Der Name war mir geläufig, viele Juden hatten sich damit umgebracht. Für mich war die Entdeckung eine Katastrophe. Ich habe meinem Vater davon erzählt und erwartet, dass er protestiert. Aber er ist stumm geblieben, die ganze Zeit.
Wann war Ihnen klar, dass der Krieg vorbei ist?
In den letzten Tagen des Krieges ging die SS von Tür zu Tür und schaute, ob es noch wo Juden gibt. Später, als ich mit meinem Vater das Haus verließ, sah ich einen Haufen von toten Menschen liegen. Alle erschossen. Eine ältere Frau hatte noch das Marmeladenbrot in der Hand. In unserem Haus versteckte sich ein Deserteur, der half, die Tür zu verbarrikadieren. Deshalb ist die SS weiter, sie waren in Eile. Kurz darauf kam ein russischer Soldat in unser Versteck. Meine Mutter sagte auf Polnisch: "Wir sind Juden." Er ging wortlos.
Wann wurde das Leben wieder normal?
Wir bekamen eine Wohnung zugewiesen, der Vater hatte Arbeit, ich ging in die Schule. Die äußere Normalität war schnell wieder da. Die innere Normalität sah anders aus. Meine Eltern blieben stumm. Wenn es an der Tür geläutet hat, sind sie immer erschrocken.
Sie haben Medizin studiert, wurden Psychiater und Therapeut. Wie sehr hat Ihre Berufswahl mit Ihrer Familiengeschichte zu tun?
Ich hatte den Wunsch, meine Eltern zu verstehen. Denen ging es nicht gut. Meine Arbeit hat mich davon überzeugt, dass ich Menschen wieder herstellen kann. Das fasziniert mich an der Psychiatrie: Menschen zu helfen, zu sich zu kommen.
Während des Krieges hatten Sie oft Glück. Es gab immer wieder Situationen, die anders hätten ausgehen können. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, es waren wirkliche Wunder. Einmal war ich allein in der Wohnung, und es gab Bombenalarm. Ich wusste gar nicht wohin vor Angst und bin auf die Straße gelaufen. Da fuhr ein Lastwagen vorbei. Hinten drauf mein Vater. Ich schrie. Er hat mich gehört, auf den Wagen geholt, und ich war gerettet. Wer kann’s erklären?
Das Leben von Harry Merl
Harald „Harry“ Merl wurde im Jahr 1934 in Wien geboren. Die jüdische Familie lebte im zweiten Bezirk in einer Wohnung. Aus dieser wurde sie 1938 vertrieben. Viele Verwandte, darunter auch die Großeltern, und Freunde wurden deportiert und ermordet. Über den Verbleib der Verwandten wusste man lange nichts, die Namen fand Merl später in den Totenbüchern der Konzentrationslager. Familie Merl wurde in Sammelwohnungen untergebracht. Die Mutter fand Arbeit bei einem arisierten Betrieb, der Vater musste in Eisenerz arbeiten.
Er kam zurück nach Wien und konnte durch einen Bekannten, der bei der SA war, gemeinsam mit seiner Frau bei einer Firma arbeiten, die jüdische Besitztümer verwertete.
Im Jänner 1945 kündigte sich aber die Deportation der Familie an. Die Merls versteckten sich monatelang in einem Kohlekeller. Harry Merl, bei Kriegsausbruch keine vier Jahre alt, war als Kind stundenlang allein. Er lehrte sich selbst lesen und schreiben. Erst nach dem Krieg konnte er in die Schule gehen. Er studierte Medizin und spezialisierte sich auf Psychiatrie.
Merl erhielt das Angebot, stundenweise Psychotherapie im Wagner-Jauregg-Krankenhaus Linz zu praktizieren. Er baute das Institut für Psychotherapie auf und wurde Primar. Er betreut noch immer Klienten in seinem Heimatort Gramastetten.
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es würde mich noch mehr freuen wenn die OÖNachrichten auch die heutige rassistische und Menschen verachtende Politik und die betreffenden Parteien deutlich als solche beschreiben würde!! Aber leider ist diese Zeitung auch ei "Mitläufer" . Später wird man wieder sagen "wir haben es nicht gewusst" ganz traurig !
Mit den wenigen edlen Menschen im Land als Leser verdient halt die Zeitung nicht genug Geld, um die vielen guten Redakteure zu bezahlen.
Um es harmlos und verniedlicht zu schreiben...
Ein wunderbarer, großer, humaner Mensch!
Wahrlich!
Michael Köhlmeier:
Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, nie, sondern mit vielen kleinen. Von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.
> Da fuhr ein Lastwagen vorbei. Hinten drauf mein Vater. Ich schrie. Er hat mich
> gehört, auf den Wagen geholt, und ich war gerettet. Wer kann’s erklären?
Immerhin ist jetzt ein sehr schöner OÖN-Artikel entstanden
Ein sehr netter und einfühlsamer ehemaliger Kollege meiner Frau, der nicht nur als Arzt, sondern vor allem als Mensch hoch geschätzt ist. אנו מאחלים לכם גם