Wo das tapfere Schneiderlein zum Influencer wird
VORCHDORF. Ein digitaler Adventkalender aus Vorchdorf interpretiert Märchen zeitgemäß – und erweckt Interesse der Bildungsdirektion.
Tim ist der beliebteste Schneider der Stadt. Einer, dem besonders viele Menschen folgen. Manche in sein kleines Atelier und noch viel mehr auf seinen Profilen in den sozialen Medien. Als ihn eines Tages Fliegen beim perfekten Foto vom perfekten Outfit stören, rollt er einen alten Pullover zusammen und schlägt zu. "Sieben auf einen Streich" erwischt er. Das ist auch der Spruch, den er später auf seine Jacke stickt und in den sozialen Medien verbreitet. Die Menschen bewundern ihn, obwohl niemand genau weiß, was er eigentlich getan hat. Dass es Fliegen waren, die er besiegt hatte, weiß auch der König nicht, als er ihn einlädt, seine Heldentat bei den bösen Riesen zu wiederholen.
"Die Parallelen zwischen dem ursprünglichen Märchen und unserer digitalen Gegenwart sind erschreckend real", sagt Martin Fischer, der das "Tapfere Schneiderlein" neu interpretiert hat.
"In beiden Fällen geht es um die Macht von Gerüchten und die gefährliche Eigendynamik von Falschinformationen. Was im Märchen noch harmlos erscheint, zeigt sich heute in seiner ganzen Brisanz", sagt der Vorchdorfer Trafikant, der für Eltern und deren Kinder einen besonderen Adventkalender gestaltet hat. Unter openthedoors.at kann ab 1. Dezember jeden Tag ein zeitgemäßes Märchen freigeschalten werden. Als Hörspiel, gelesen von 24 Menschen aus dem Salzkammergut, vom zehnjährigen Schulkind bis zum Vorchdorfer Pfarrer. Erstellt mithilfe von künstlicher Intelligenz, redigiert von Fischer selbst.
"Die Geschichten sind zwischen vier und sechs Minuten lang und für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren geeignet", sagt Fischer. Ziel sei es, dass Kinder vor Weihnachten Zeit mit den Eltern verbringen, gemeinsam lesen und zuhören. "Und dass Eltern vielleicht eine Sensibilität entwickeln, was die Kinder im Internet alles machen", sagt Fischer.
Denn Influencer hätten schon auf Volksschüler einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, Jugendliche würden bis zu sechs Stunden am Tag am Smartphone verbringen und Dreijährige schon über ein Tablet wischen. "Dieser Adventkalender ist unsere Antwort darauf. Jede Geschichte öffnet eine Tür für Gespräche zwischen den Generationen", sagt der Vorchdorfer. Über echte Freundschaften in Zeiten von Followern, über Identität jenseits von Selfie-Filtern und über das, was im Leben wirklich wertvoll sei.
Die Märchen sprechen auch unangenehme Dinge an: Das hässliche Entlein beispielsweise wird – wie auch im Original – gemieden und zum klassischen Mobbingopfer. Der böse Wolf wird selbst zum Mobber, die Brotkrümel, die Hänsel und Gretel im Wald verteilen, stehen für die Daten, die wir im Internet (der dunkle Wald) zurücklassen, ohne es zu wissen oder uns wirklich darum zu kümmern.
Anfrage von Bildungsdirektion
Das Projekt, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Tourismusverein Vorchdorf, vereint Kulturerbe und Medienpädagogik. Das ist auch der Bildungsdirektion Steiermark aufgefallen. "Ich habe einen Anruf bekommen, dass es Interesse gibt, das Projekt auch in die Schulen zu bringen", sagt Fischer. Einen kleinen Vorgeschmack gibt es schon: Tür Eins und zwei sind bereits geöffnet.