Spannendes Material Spinnenseide
Gerüst für Nervenzellen, Stütze für Herzgewebe, Schutz für Brustimplantate – und Gewebe für Sportschuhe.
Spinnenseide ist für die Medizin – und nicht nur für sie – derzeit ein extrem spannendes Material. Kürzlich berichtete die Med-Uni Wien vom großen Potenzial der Fäden, Nerven und Gewebe zu reparieren. Die Forschungen von Chistine Radtke, neue Professorin für Plastische und Rekonstruktive Chiurgie am AKH Wien, befinden sich erst im Stadium der Tierversuche, lassen aber Hoffnungen auf erfolgreiche Nerventransplantationen zu.
Bei sogenannten langstreckigen Nervenverletzungen im peripheren Nervensystem werden Röhrchen (Interponat) eingesetzt, um durchtrennte Nerven wieder zusammenwachsen zu lassen. "Das funktioniert nur über kurze Distanzen bis etwa vier Zentimeter gut", sagt Radtke. In der Medizinischen Hochschule Hannover hat die Neo-Wienerin eine neue mikrochirurgische Methode entwickelt, bei der Venen mit Spinnenseide als längsverlaufende Leitstruktur gefüllt werden. "Das funktioniert praktisch wie ein Rosengitter", erklärt Radtke: "Die Nervenfasern benützen die Seidenfasern, um daran entlang zu wachsen und damit das gegenüberliebende Nervenende wieder zu erreichen." Die Seide biete gute Haftung, unterstütze die Zellbewegung und fördere die Zellteilung.
Im Tiermodell konnten damit bereits Distanzen von sechs Zentimetern überwunden werden. Das dauerte neun Monate lang. Am Ende wird das Gerüst aus Spinnfäden vom Körper abgebaut. Abstoßungsreaktionen gebe es nicht.
Spinnen an der Melkmaschine
Für Radtkes Forschungen arbeiten 21 Goldene Radnetzspinnen aus Tansania im Wiener Labor. Sie werden maschinell gemolken. In 15 Minuten können so bis zu 200 Meter Spinnenseide gewonnen werden. Für die Überbrückung eines Nervenschadens von sechs Zentimetern sind mehrere hundert Meter Seide nötig – und ein paar Extra-Grillen für Lieferantinnen.
Noch bedarf es klinischer Studien am Menschen, bevor Spinnenseide als Medizinprodukt eingesetzt werden kann. Danach wären laut Radtke weitere Einsatzbereiche denkbar: bei Meniskus- oder Bänderverletzungen, bei tiefen Hautverbrennungen, oder auch bei neurologischer Erkrankungen, bei denen Zelltransplantationen eine Rolle spielen.
Ebenfalls viel Potenzial für Spinnenseide sieht man an der Universitätsklinik Erlangen. Laut der Mediziner Thomas Scheibel und Felix Engel eigne sich Spinnenseide dafür, Herzgewebe von Herzinfarkt-Patienten wiederherzustellen. Für solche Gerüste müssten jedoch keine Spinnen langwierig gemolken werden. "Spiderman" Scheibel forscht seit Jahren an der künstlichen Herstellung von Spinnenseide und berichtet kürzlich von einem Durchbruch: "Uns ist es gelungen, ein rekombiniertes Seidenprotein der Gartenkreuzspinne in größeren Mengen bei gleichbleibender Qualität zu erzeugen", so der Chef der Firma AMSilk.
Es sind die Eigenschaften der Spinnenseide, die sie so interessant machen: Sie ist belastbarer als Nylon, Kevlar und allen anderen bekannten Fasermaterialien. Was das Material für die Medizin attraktiv macht ist seine Oberfläche. Sie ist so aufgebaut, dass sich Bakterien und Pilze nicht daran festhalten können und somit steril. Bereits der griechische Philosoph Aristoteles wusste, dass Spinnennetze gute Wundpflaster abgeben.
Überzug für Silikonimplantate
Philip Zeplin, Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie an der Schlosspark Klinik Ludwigsburg, erklärt eine mögliche innere Anwendung von Spinnenseide: "Silikon wird vom Körper nicht so gut akzeptiert." Werden unbehandelte Silikonpolster eingesetzt, besteht bei gesunden Menschen ein etwa zehnprozentiges Risiko einer sogenannten Kapselfibrose. Der Körper reagiert mit einer Abstoßungsreaktion und verkapselt das Implantat. Bei Brustkrebspatientinnen liegt das Risiko aufgrund der Bestrahlung bei 26 Prozent. Spinnenproteine sind im Körper besser verträglich als Silikon.
Im Tierversuch habe die Methode alle Voraussetzungen erfüllt. In Kürze beginnen die Tests am Menschen. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich die Seidenproteine bewähren werden", so Zeplin. Er meint, die Methode werde künftig auch für andere Implantate geeignet sein wie etwa Gefäßprothesen, Dialysekatheter oder Herzklappen.
Auch die Wirtschaft interessiert sich für die Spinnenseide. So hat zum Beispiel der Sportartikelhersteller Adidas im vergangenen Jahr Scheibels Spinnenseide für sich entdeckt. Bisher gibt es nach Angaben eines Firmensprechers lediglich einen Prototypen eines Schuhs, der aus biologisch abbaubaren Materialien besteht. Man plane ihn aber auf den Markt zu bringen. Doch wie steht es um die Haltbarkeit? "Spinnennetze halten ewig", sagte Scheibel. In alten Gebäuden könne man durchaus 500 Jahre alte Exemplare finden.
Die Idee, Spinnenseide als Werkstoff zu nutzen gab es bereits in den 1980er Jahren, doch sind namhafte Chemiekonzerne an deren (unwirtschaftlicher) Produktion gescheitert.
Ein Netz fürs Grobe
Schade, denn die Seide hat ungeahntes Potenzial. Die goldene Radnetzspinne, jene Art mit der an der MedUni Wien gearbeitet wird, spinnt Fäden, die reißfester als Nylon sind, viermal dehnbarer als Stahl, bis 250 Grad Celsius hitzestabil und extrem wasserfest. Die Netzt der tansanischenSpinne sind so stark, dass die Einheimischen sie zum Fischen verwenden.