Familiengeheimnisse und Lebenslügen
Der renommierte Historiker Philipp Blom überzeugt mit "Bei Sturm am Meer" auch als Romanautor.
Den deutschen, in Wien lebenden Historiker Philipp Blom kennt man als brillanten Sachbuchautor ("Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914", "Die zerrissenen Jahre. 1918–1938"). Wie Blom über Geschichte schreibt, zeigt nicht nur seine intellektuelle Kapazität, sondern auch sein erzählerisches Talent. Dass ihn früher oder später nicht nur Fakten, sondern auch Fiktionen reizen würden, ist nicht verwunderlich, und nehmen wir es gleich vorweg: Sein Romandebüt "Bei Sturm am Meer" ist ihm gelungen!
Blom vermeidet die epische Breite. Er bringt ziemlich viel Stoff auf bescheidenen 220 Seiten unter. Vielleicht hätte man sich manchmal mehr Atmosphärisches und Anschauliches gewünscht, aber der Vorteil von Raffung und Skizzierung liegt auf der Hand: Langweilig wird dem Leser nicht.
"Bei Sturm am Meer" ist ein Generationenroman, in Ansätzen auch ein moderner Entwicklungsroman. Die Hauptfigur ist der Kunstexperte Ben, eine typische Mittelstandsexistenz, Mitte vierzig, verheiratet mit Xenia, einer erfolgreichen Wissenschaftlerin, Vater des vierjährigen Sascha. Ben reist nach Amsterdam, um dort seine verstorbene Mutter Marlene zu begraben. Die Zeit drängt, aber Ben muss fünf Tage bleiben, denn die Urne mit Mutters Asche ist auf dem Postweg verschwunden.
In diesen fünf Tagen widerfährt Ben mehr Familiengeschichte, als ihm angenehm ist. Da ist zunächst die Erinnerung an Elly, die Großmutter mütterlicherseits, eine Deutsche, die einen um vieles älteren Holländer geheiratet hat und in der spießbürgerlichen Prüderie und der Deutschenfeindlichkeit von Den Haag zuerst unglücklich und letztlich zur Alkoholikerin geworden ist. Marlene, ihre Tochter aus einer Kurzbeziehung mit einem Deutschen, gehört zur Generationen der Achtundsechziger, passt sich allerdings dem Zeitgeist der Revolte eher an, als ihn zu vertreten. Dies vor allem aus Liebe zu Henk, einem linken Spiegel-Journalisten. Auf einer Reise in kolumbianisches Rebellengebiet ist Henk in den Siebzigern spurlos verschwunden. Der kleine Ben war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Das heroische Bild vom Vater als einem Märtyrer der Weltrevolution begleitet ihn lange. So lange, bis ein Brief mit dieser dunkelroten Familienlegende aufräumt. Der Aufenthalt in Amsterdam enthüllt aber nicht nur ein Familiengeheimnis, er fordert Ben auch zur kritischen Betrachtung seines eigenen Lebens heraus.
In Briefen an seinen vierjährigen Sohn (die dieser erst in vierzig Jahren erhalten soll) erzählt Ben von seiner Jugend, seiner Ehe, seinen Enttäuschungen und Ängsten, von unkalkulierbaren Risiken des Lebens. Ein Bild aus dem 18. Jahrhundert macht Philipp Blom zum Leitmotiv. Es zeigt ein gestrandetes Schiff, die Mannschaft hofft auf Rettung, und tatsächlich brechen entschlossene Männer vom Strand auf. Um das Schiff zu retten? Oder um es zu plündern und die Besatzung zu massakrieren? Die Ambivalenz der Situation verursacht beunruhigende Spannung. Die Seefahrt ist nicht das originellste Symbol für das Leben, aber treffend ist es allemal.
Philipp Blom: "Bei Sturm am Meer". Roman, Zsolnay, 220 Seiten, 20,60 Euro.
OÖN Bewertung: