Aufsehenerregende Morde mit Tschetschenien-Verbindung
Nur vier Wochen nach der Ermordung der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa ist Sarema Sadulajewa, Chefin einer russischen Nichtregierungsorganisation in Tschetschenien, zusammen mit ihrem Mann in der Nähe der tschetschenischen Hauptstadt Grosny tot aufgefunden worden.
Nur vier Wochen nach der Ermordung der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa ist Sarema Sadulajewa, Chefin einer russischen Nichtregierungsorganisation in Tschetschenien, zusammen mit ihrem Mann in der Nähe der tschetschenischen Hauptstadt Grosny tot aufgefunden worden. Die Liste der bis dato ungeklärten Mordfälle mit Tschetschenien-Zusammenhang wird damit immer länger. Immer wieder werden Journalisten oder Menschenrechtsaktivisten getötet. Die Täterschaft bleibt zumeist ungeklärt. Auch in Wien war es heuer schon zu einem Mord auf offener Straße an einem jungen Tschetschenen gekommen:
11. August 2009, Grosny
Wenige Stunden nach ihrer Entführung wird Sarema SADULAJEWA, Chefin einer russischen Nichtregierungsorganisation in Tschetschenien, tot aufgefunden. Die Leichen von ihr und ihrem Mann werden in der Nähe der Hauptstadt Grosny im Kofferraum eines Autos mit Schusswunden in Kopf und Brust entdeckt. Sadulajewa engagierte sich in der von zwei Kriegen verwüsteten Kaukasus-Region seit 15 Jahren für notleidende Kinder. Sie war Mitarbeiterin der Organisation „Lasst uns die Generation retten“. Zuvor war sie am helllichten Tag von Unbekannten aus ihrem Büro verschleppt worden.
15. Juli 2009, Grosny
Natalja ESTEMIROWA (50) wird in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, gewaltsam unter Gegenwehr von vier Männern in ein Auto gezerrt und entführt. Wenige Stunden später wird ihre Leiche in der Nachbarrepublik Inguschetien aufgefunden. Sie weist Schusswunden am Kopf auf, die ihr offenbar aus nächster Nähe zugefügt wurden. Sie zählte zu den führenden Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisation Memorial im Kaukasus. Die Organisation machte Truppen des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow für die Tat verantwortlich. Für ihre Arbeit wurde Estemirowa 2007 mit dem Anna-Politkowskaja-Preis ausgezeichnet. Mit der 2006 ermordeten Journalistin war sie befreundet.
Februar 2009, Moskau
Der ehemalige Vizebürgermeister der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, Gilani SCHEPIJEW, wird in der Nacht in Moskau vor seinem Hauseingang erschossen. Nach Angaben eines Sprechers der Sicherheitskräfte Tschetscheniens war Schepijew im Bürgermeisteramt für die bewaffneten Strukturen der Republik zuständig. Bereits 2006 sei auf Schepijew ein Attentat im Stadtkern von Grosny verübt worden, und sein Auto mit Schnellfeuerwaffen beschossen worden. Damals sei er mit Verletzungen davon gekommen.
Jänner 2009, Moskau
Der Anwalt Stanislaw MARKELOW (34) wird am helllichten Tag auf einer belebten Straße im Stadtzentrum Moskaus niedergeschossen. Im Zuge des Mordanschlags wird die 25-jährige Journalistin Anastassija BABUROWA durch Schüsse tödlich verletzt. Markelow hatte unter anderem mit der 2006 ermordeten kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja zusammengearbeitet und sich für die Aufarbeitung von Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Tschetschenien eingesetzt. Der Anwalt kündigte an, gegen die Freilassung eines russischen Militärs, der wegen Tötung einer jungen Tschetschenin verurteilt worden war, vorzugehen.
Jänner 2009, Wien
Der 26 Jahre alte Tschetschene Umar ISRAILOV wird auf offener Straße in Wien-Floridsdorf erschossen. Hintergrund der Tat soll laut der Familie des Opfers eine Anzeige bei der russischen Staatsanwaltschaft sowie eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen Russland wegen Folterungen und Verbrechen unter dem Kommando des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow sein. Der in Wien lebende Israilov habe früher für Kadyrow gearbeitet und sei bei diesem in Ungnade gefallen, hieß es.
September 2008, Moskau
Ein Widersacher von Kadyrow, Ex-Duma-Abgeordneter und Sprecher eines mit Kadyrow verfeindeten Clans, Ruslan JAMADAJEW, wird in seinem Wagen erschossen. Der frühere Truppenkommandant Jamadajew wird an einer Kreuzung aus einem anderen Auto heraus erschossen. Jamadajew und sein ebenfalls erschossener Bruder Sulim galten als Hauptfeinde des kremltreuen tschetschenischen Präsidenten. „Kadyrows letzter Rivale tot“, kommentierte ein Experte den Mord.
November 2006, Moskau
Der zur Fahndung ausgeschriebene Tschetschene Mowladi BAISSAROW, Ex-Kommandant einer moskautreuen Spezialeinheit des Geheimdienstes und ein Widersacher Kadyrows, wird in Moskau von Polizisten bei einem Feuergefecht getötet. Aus Polizeikreisen verlautete, Baissarow habe erbitterten Widerstand gegen seine Verhaftung geleistet. Baissarow hatte noch kurz zuvor in einem Zeitungsinterview gesagt, Kadyrow habe Auftragskiller nach Moskau geschickt, um ihn zu ermorden. Nach dem Tod des früheren tschetschenischen Präsidenten Achmat Kadyrow hatte sich Baissarow geweigert, sich den Truppen von Kadyrows Sohn Ramsan anzuschließen.
November 2006, London
Der russische Ex-Agent Alexander LITWINENKO stirbt an einer Vergiftung mit dem radioaktiven Material Polonium 210. Litwinenko war ein scharfer Kritiker des Kreml. Nach seiner Flucht nach Großbritannien war er Mitautor eines Buches, in dem der FSB, der russische Nachfolger des Sowjet-Geheimdienstes KGB, beschuldigt wurde, 1999 tödliche Anschläge auf Wohnhäuser verübt zu haben und die Verantwortung dafür tschetschenischen Separatisten zugeschoben zu haben. Litwinenko untersuchte nach eigenen Angaben die Geiselnahme tschetschenischer Rebellen in einem Moskauer Musicaltheater im Oktober 2002 und recherchierte zum Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja.
Oktober 2006, Moskau
Die kreml-kritische Journalistin Anna POLITKOWSKAJA wird vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Die Reporterin der „Nowaja Gaseta“ hatte über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien berichtet. Politkowskaja hatte im Herbst 2001 nach einer Morddrohung in Wien Zuflucht gesucht, wo sie als Stipendiatin am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) ein Buch über das Verhältnis zwischen Moskau und Grosny schrieb. Als Todesschütze wird von den Behörden ein Tschetschene verdächtigt, der nach Westeuropa geflohen sein soll.
Juli 2004, Moskau
Der Chefredakteur der russischen Ausgabe des US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“, Paul KLEBNIKOV (Klebnikow), wird in Moskau vor dem Redaktionsgebäude erschossen. Die Behörden gehen zunächst von einer „tschetschenischen Spur“ aus und nehmen einen tschetschenischen Widerstandskämpfer fest, über den Klebnikov kritisch in seinem Buch „Interview mit einem Barbaren“ geschrieben hat. Klebnikovs Familie und unabhängige Zeitungen bezweifeln, dass der Tschetschene hinter dem Mord steht.
April 2003, Moskau
Der liberale russische Abgeordnete Sergej JUSCHENKOW wird in der Nähe seiner Wohnung in Moskau erschossen. Der Oppositionspolitiker ist ein scharfer Kritiker des Tschetschenien-Krieges und der KGB-Nachfolgeorganisation FSB. Er veröffentlichte zusammen mit seiner Partei einen Film, in dem dem FSB eine Verwicklung in eine Serie von Bombenanschlägen in Moskau vorgeworfen wird. Die Partei Liberales Russland hatte große Schwierigkeiten, in Russland registriert zu werden. Sie war erst wenige Stunden vor dem Mord an Juschenkow offiziell als Partei anerkannt worden.