Wie die Terrornacht in Wien den Verfassungsschutz in die Krise stürzte
WIEN. Der amtsbekannte Islamist Kujtim F. feuerte vor einem Jahr in die Menschenmasse. Der Verfassungsschutz war vielen Hinweisen, auch aus dem Ausland, nicht nachgegangen.
Es war die letzte Nacht vor dem zweiten Lockdown, denn ab 3. November 2020 durften die Menschen ihre Wohnungen zwischen 20 und 6 Uhr nur noch aus bestimmten Gründen, etwa zum Pendeln zur Arbeit oder für Spaziergänge "zur körperlichen oder psychischen Erholung", verlassen. Gut besucht waren daher die Lokale in der Wiener Fortgehmeile "Bermudadreieck" nahe dem Schwedenplatz.
Kujtim F., 20 Jahre alt, Österreicher mit albanischen Wurzeln und amtsbekannter Sympathisant des "Islamischen Staats", durfte mit einer Vielzahl an Opfern rechnen, als er am Abend des 2. November gegen 17.45 Uhr alleine den sieben Kilometer langen Fußmarsch von seiner Wohnung in die Innenstadt antrat. Schwer bewaffnet, mit einem Kalaschnikow-Nachbau (AK-47), einer Pistole, einer Machete – und ganz in Weiß gekleidet.
Um 19.30 Uhr geriet der 20-Jährige erstmals am Schwedenplatz ins Visier von Überwachungskameras. Eine halbe Stunde später, gegen 20 Uhr, fielen die ersten Schüsse und die ersten Notrufe gingen ein. Wahllos feuerte der 20-Jährige mit dem Maschinengewehr auf Passanten. Ein 21-jähriger Österreicher, eine 24-jährige Studentin aus Deutschland, eine 44-Jährige und der 39-jährige Betreiber eines Asia-Lokals, ebenso österreichischer Staatsbürger, wurden im Kugelhagel ermordet. 23 Menschen wurden teils schwer verletzt.
Der Horror in der Wiener Innenstadt dauerte keine zehn Minuten, denn um 20.09 Uhr wurde F. von Beamten der Sondereinheit Wega erschossen. Doch die Einsatzkräfte wussten nicht, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, gingen damals von mehreren Attentätern aus. So spielten sich stundenlang dramatische Szenen ab.
Angst und Schrecken in Kirche
Etwa in Lokalen, in die die Schussopfer geflüchtet waren und dort mit blutenden Wunden ausharrten; sie wurden von Helfern notdürftig mit Kleidungsstücken und Tischdecken verbunden. Oder in der Ruprechtskirche, wo Jugendliche eine Messe feierten und sich im Gotteshaus verbarrikadierten.
Für Justiz, Polizei und Verfassungsschutz war Kujtim F. zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein Unbekannter, denn der Mann war einschlägig wegen Terrordelikten vorbestraft. Im September 2018 hatte F. erfolglos versucht, über die Türkei nach Syrien zu reisen, um sich dort dem IS anzuschließen. In der Türkei verhaftet, wurde er nach Österreich zurückgeschoben. Im April 2019 wurde er in Wien zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Im Prozess beteuerte er, er habe den Weltanschauungen des IS mittlerweile abgeschworen. Eine blanke Lüge, wie sich herausstellen sollte.
Nach zwei Dritteln der Haftzeit wurde F. im Dezember 2019 vorzeitig entlassen und erhielt die Auflage, an einem Deradikalisierungskurs teilzunehmen. Der Wiener Verfassungsschutz wurde über die Enthaftung informiert. In der Folge knüpfte F. erneut Kontakt zur Islamistenszene in Deutschland und in der Schweiz. Die deutschen Kollegen setzten das Amt in Wien davon in Kenntnis. Doch Observierungen wurden vorerst nicht eingeleitet.
Video: Strafrechtsprofessorin Ingeborg Zerbes ist Leiterin der Kommission, die untersuchte, ob das Terrorattentat in Wien vor einem Jahr zu verhindern gewesen wäre. Im Februar hatte sie ihren Abschlussbericht vorgelegt.
Slowakei meldete Vorfall
Im Juli 2020 holte F. zwei deutsche Islamisten vom Flughafen Schwechat ab. Sie besuchten Moscheen. Danach versuchte F. erfolglos, bei einem Waffenhändler in der Slowakei AK-47-Munition zu kaufen. Der Vorfall wurde von den slowakischen Stellen nach Wien gemeldet, ohne Folgen. Noch am Morgen vor dem Anschlag postete der Attentäter auf Instagram martialische Bilder, die ihn mit den späteren Waffen posierend zeigten. Im Endbericht der Untersuchungskommission unter der Leitung der Strafrechtsexpertin Ingeborg Zerbes war von "erheblichen Mängeln" im Bundes- wie auch Landesverfassungsschutz "bei der Bekämpfung terroristischer Straftaten" die Rede. Zwischen dem BVT und dem Wiener LVT habe "ein Klima des Misstrauens" geherrscht, die Atmosphäre sei "nachhaltig zerrüttet" gewesen, weshalb Informationen nur verzögert weitergegeben worden seien.
Eine Verfassungsschutz-Reform war die Folge. Den Opfern wurde nach monatelangem Hin und Her ein mit 2,2 Millionen Euro dotierter Entschädigungsfonds zugesprochen.
Lebensretter im Interview
Der damals 24-jährige Osama El Hosna rettete vor einem Jahr einem Polizisten das Leben. Nun hat er ein Buch mit dem Titel "Wie wir nicht sind" geschrieben. Im Interview mit "Wien heute"-Moderator Patrick Budgen erzählt er, wie es ihm ein Jahr nach dem Attentat geht.
Nach dem Terroranschlag: Eine Chronologie
3. November – Einzeltäter: Im Innenministerium wird vermutet, dass es sich um einen Einzeltäter handelte. Der "IS" reklamiert den Anschlag für sich. Im Spital stirbt eine 44-jährige Österreicherin an den Folgen ihrer Schusswunden.
11. November – Maßnahmen: Die Bundesregierung schnürt ein "Anti-Terrorpaket", das Präventivhaft ermöglichen soll. Auch ein „Imame-Verzeichnis“ ist geplant. Kritik kommt von Vertretern der muslimischen Glaubensgemeinschaften.
12. November – Untersuchung: Missstände im Verfassungsschutz sollen von einer von Innen- und Justizministerium eingesetzten Kommission untersucht werden. Die Leitung übernimmt die Wiener Strafrechtsexpertin Ingeborg Zerbes.
10. Februar – Ergebnisse: Die Untersuchungskommission liefert ihren Schlussbericht. Schwere Versäumnisse im Sicherheitsapparat werden ebenso kritisiert wie die geplanten Anti-Terrormaßnahmen.
Welche Lehren ziehen die Spezialeinheiten aus der Terrornacht?
Ein Jahr danach: Gedenkfeier mit Bundespräsident
Nach dem Anschlag mit vier Toten und Dutzenden Verletzten findet heute in der Ruprechtskirche eine Gedenkfeier statt. An dieser nehmen u.a. Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Bundeskanzler Alexander Schallenberg (VP), Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Kardinal Christoph Schönborn teil. nachrichten.at überträgt die Gedenkveranstaltung live ab 16:45 Uhr.
Schon gestern meldete sich die Opposition zu Wort. "Unsere Demokratie ist stärker als Hass und Gewalt", sagte SP-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Die SP will das Verbrechensopfergesetz verbessern. Von einer „ernstgemeinten Aufarbeitung der Fehler“ sei bisher nichts zu sehen, kritisierte FP-Chef Herbert Kickl. Fehlerhafte Gefährdungseinschätzungen und mangelnden Datenaustausch dürfe es nicht mehr geben, so auch Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger.
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