Die Demokratie der blöden Tiere
Einer der sprachmächtigsten österreichischen Schriftsteller und Essayisten, Robert Menasse, referierte kürzlich bei der Landesbildungskonferenz der Sozialdemokraten in Linz. Die OÖN sprachen mit ihm über den Zustand der Gesellschaft, das Bedürfnis nach einfachen Lösungen, Lust, Liebe und Sinn in Zeiten von Korruption und Bildungsferne.
OÖN: Stimmt der Eindruck, dass draußen die letzten Ausläufer des Casino-Kapitalismus wüten und sich drinnen die Leute in die Fernsehdecke kuscheln?
Menasse: Was die Menschen drinnen machen, weiß ich nicht. Was sich öffentlich zeigt, ist Nervosität, Ängste. Darauf kann man auf verschiedene Weise reagieren. Man kann sich eine idyllische Scheinwelt aufbauen, also in ein Biedermeier flüchten, oder man wird wütend und wehrt sich in irgend einer Form, weil man sich sagt: Ich lasse nicht zu, dass alles den Bach runtergeht. Das kann zu allem Möglichen führen, zu Wutbürgern, die mehr politische Partizipation erkämpfen wollen, oder bloß zu Denkzettel-Wählern. Ich weiß nicht, welche Tendenz gesamtgesellschaftlich stärker ist. Ich weiß, wie die Stimmung des aufgeklärten Teils der Studentenschaft ist, weil ich im Zuge der Protestbewegung „Uni brennt“ die Universitäten besucht habe: kämpferisch und zornig. Sie haben begriffen, dass der bildungspolitische Notstand nicht nur sie um Lebenschancen, sondern überhaupt die Demokratie in Gefahr bringt: Eine Demokratie von Idioten ist das Ende von Demokratie.
OÖN: Woher kommt das Bedürfnis nach einfachen Zusammenhängen und Lebensformeln?
Menasse: Man sagt immer, „weil die Welt noch nie so komplex war wie heute!“ Aber diesen Satz konnte jede Generation sagen. Auch für die Großeltern war die Welt komplexer als für die Urgroßeltern. Daher hat es den Hang zur Vereinfachung in irgendeiner Form immer gegeben. Die Frage ist, ob man die Bedingungen seines Lebens überhaupt verstehen WILL. Das Sympathische bei den Studenten ist, dass sie bildungshungrig sind. Man sagte immer, sie machen Krawall, sie machen sich eine Hetz, aber in Wahrheit sind sie es, die nicht verführbar sind von Krawallpolitik und Hetzern. Sie sind leider eine Minderheit, darum werden wir noch große Probleme mit falschen, gefährlichen Vereinfachungen bekommen.
OÖN: Spüren Sie eine Art Lustlosigkeit oder gar Lustfeindlichkeit in unserer Gesellschaft?
Menasse: Lustfeindlichkeit ist menschenfeindlich. Zunächst sind doch alle menschlichen Anstrengungen auf die Vermeidung von Unlust ausgerichtet: man will nicht frieren, nicht hungern, keine Schmerzen haben und so weiter. Dann beginnt man zu genießen: dass man satt ist, es warm hat, gestreichelt wird … Es gibt allerdings Umstände, in denen einem die Genussfähigkeit ausgetrieben wird. Das kann auch ökonomische Gründe haben: es ist klar, dass ein befriedigter Mensch nicht für Wachstum sorgt.
OÖN: Ein lustloser Mensch aber schon?
Menasse: Ein lustloser Mensch will auch Lust. Aber er braucht immer stärkere Reize, einen wachsenden Konsum von Ersatzdrogen. Lustlosigkeit zeigt sich auch in Gier, die nie befriedigt werden kann. Neu ist: es hat in katholischen Ländern noch nie so viele verordnete oder selbst auferlegte Einschränkungen gegeben, auch in Hinblick auf Genussmittel: Katholische Länder waren immer barock sinnlich, protestantische puritanisch. Die barocken Länder waren aber auch immer eher korrupt, man muss sich die Ausschweifungen ja auch leisten können, die Protestanten waren das eher nicht. Wozu braucht ein Puritaner Schmiergeld? Was täte er damit? Das wäre ein Widerspruch in sich. Das ist wirklich eigenartig: Heute werden sogar katholische Länder puritanisch, und protestantische Länder korrupt. Wir haben die eigentümlichste Mischung in der Geschichte der Moderne: Puritanismus plus Korruption. Lustfeindlichkeit und Gier. Das ist ein widerlicher gesellschaftlicher Prototyp: der nicht rauchende, Cola light trinkende, fettarm essende Schmiergeldempfänger.
OÖN: Wie wirkt sich das auf Sinnlichkeit und Sexualität, aus?
Menasse: Man sagt zwar immer „Sex sells“, aber ich beginne das zu bezweifeln. Ich kaufe doch nichts, was mich langweilt. Sexuelle oder erotische Reize sind heute im besten Fall langweilige Schablonen, in der Regel sind sie demütigend, für Frauen und Männer. Wer glaubt, dass er etwas besser verkauft, wenn er es mit einer Halbnackten bewirbt, sagt der Frau: Du bist eine Sache, und er sagt zum Mann: Du bist ein blödes Tier. Und wer den Gürtel enger schnallen muss, ist auch nicht gerade wegen sinnlichem Vergnügen atemlos. Und zur Langweile kommt eben auch der Puritanismus dazu: es zeigt sich alles glatt, light und safe. Wenn einen die erotischen und sexuellen Signale in der Außenwelt zu langweilen beginnen, kann man schon auch Probleme bekommen mit seiner eigenen Sinnlichkeit.
OÖN: In Ihrem Roman „Don Juan de la Mancha“ ist es die Liebe, die den Menschen Sinn gibt. Die Liebe aber verändert sich, ist immer ein Kind ihrer Zeit, oder?
Menasse: Ich würde nicht sagen, dass Liebe der Sinn des Lebens ist. Die Liebe ist der Sinn von Liebesreligionen, etwa dem Christentum. Das konkrete menschliche Leben erfordert eine ganze Bandbreite von Tätigkeiten, um zu überleben. Da ist es besser, wenn man nicht allein ist. Es war ein großer Denkfehler der Linken im Zuge der 1968er-Bewegung zu glauben, dass man über die Befreiung der Sexualität dem Menschen die Energie gibt, sich auch politisch zu befreien. Es wurden Seelen zerbrochen und im Grunde Bereiche enttabuisiert, in die dann nur das Kapital lustvoll eindringen konnte. Das Ergebnis sehen wir heute in der Werbung.
OÖN: Gibt es einen Punkt im Leben, an dem man sich sagt, die alte Generation hat manchmal so unrecht nicht gehabt?
Menasse: Es gab eine Generation, die wollte lieber in die Disco gehen, statt ein Buch zu lesen, wie es die Eltern wünschten. Irgendwann sind die Disco-Geher älter geworden, haben Kreuzschmerzen gekriegt und doch einmal ein Buch gelesen. Dann haben sie gesagt: „Die Eltern haben gar nicht so unrecht gehabt, es ist ganz schön, ein Buch zu lesen.“ Heute sagen die Jungen zu den Eltern: „So schwer ist das nicht mit einem Computer. Da können wir uns E-Mails schicken und besser in Kontakt bleiben.“ Dann sagen die Eltern: „Die Jungen haben Recht gehabt. Es ist gar nicht so schwer mit dem Computer.“ Es haben also manchmal, aber nicht immer die Älteren recht.
OÖN: Muss jeder junge Mensch durch eine kämpferische, vielleicht auch lustvolle Erfahrungswelt eines Don Quichotte?
Menasse: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass junge Menschen lustvoll kämpfen. Sie kämpfen heute darum, minimale Chancen zu verteidigen. Oft wird mit mildem Lächeln gesagt: „Sie müssen sich halt die Hörner abstoßen!“ Wer aber nicht nur zur Ich-Findung gegen Eltern und Lehrer rebelliert, sondern sich darüber hinaus mit den fragwürdigen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten unserer Gesellschaft auseinandersetzt, der sollte sich die Hörner nicht abstoßen, sondern sie wachsen lassen. Aber dann ist es mit der Milde rasch vorbei.
OÖN: Sie sind derzeit viel in Brüssel unterwegs. Wie verkraftet das politische System EU die Korruption?
Menasse: Es ist wahrscheinlich kein System ohne Korruption denkbar. Auch die EU ist davor nicht gefeit. Die Frage ist, ob die Kontrollmechanismen einigermaßen funktionieren, etwa durch die Betrugsuntersuchungsbehörde OLAF und die freien Medien. Aber ein einfaches Joghurt, das Sie bedenkenlos löffeln, enthält prozentuell mehr Gift und Schadstoffe, als die Europäischen Institutionen Korruption.