Im schwarzen Loch der Lügen und Vorurteile
Stephanie Mohrs herausragende Inszenierung von Max Frischs "Andorra" im Linzer Schauspielhaus.
Wie tröstlich, wenn die Regie einen Plan hat. Die mit zwei Nestroy-Preisen ausgezeichnete Stephanie Mohr begründet mit ihrer Inszenierung von Max Frischs 1961 uraufgeführtem Stück "Andorra" die Unterschiede von Lektüre und Schauspiel-Erlebnis. Trotzdem treibt sie Schauspieler samt Publikum in den Text und in einen hermetischen, schwarzen, nur mit Sesseln ausgestatteten Raum (Bühne: Florian Parbs, Kostüme: Nini von Selzam), in dem es kein Entkommen gibt, für niemanden. Die Premiere am Samstag bescherte die intensivsten, berührendsten zweieinhalb Theaterstunden (mit Pause) dieser Landestheater-Saison.
Diese dumme, heile Welt
Frisch stattet seine Figuren wie Brecht mit Lebensrealität von typischer Bedeutung aus, obwohl der Schweizer die Judenverfolgung nicht als historische Unterfütterung, sondern als Beispiel für das Wachsen katastrophaler Vorurteile heranzog. Andri ist der Ziehsohn des Lehrers und dessen Frau im fiktiven Andorra. Er sei als jüdisches Baby von drüben gerettet worden, von den Schwarzen, die den Andorranern ihre weißen Häuser neiden. Andris vermeintliche Herkunft basiert auf einer Lebenslüge: Der Lehrer hatte einst mit einer Senora von drüben getechtelt, dabei Andri gezeugt und ihn seiner Frau wie der gesamten Stadt als aufwachsendes Zeugnis seiner Großherzigkeit aufgetischt. Andri und des Lehrers Tochter Barblin wollen heiraten, also muss das Konstrukt ins Wanken kommen. Für die Wahrheit ist es zu spät, weil sich die Heuchler Andorras, die sich die heile Welt ihrer Heimat in einem fort vorsagen, auf alle Vorurteile gegenüber Andri verständigt haben. Tischler darf er nicht werden, seinesgleichen sei eher in Geldgeschäften talentiert. Denunziert fügt sich Andri in die von der Meute gegossene Form. In der Szene der "Judenschau" wird er ermordet, nachdem die Schwarzen im seligen Andorra eingefallen sind.
Während der Zeugenaussagen, jener Verteidigungsreden der Figuren ans Publikum, die das Schicksal Andris vorwegnehmen und bei denen jeder seine Unschuld begründet, nimmt Mohr mit 54 gleißenden Neonröhren den Publikumsraum wie bei einem Verhör ins Visier. Nichts ist zu viel, das Nötigste an Kulisse wird mit Kreide auf die Wände gezeichnet.
Glücksfälle gibt es in dieser Inszenierung reichlich. Einer ist Theresa Palfi mit ihrer bisher besten Arbeit in Linz. Als Barblin gehen ihr Verführung und Verzweiflung so erschütternd leicht von der Hand, genauso wie der Wahnsinn am Ende, wenn sie als vom Soldaten (Markus Pendzialek) missbrauchte Judenhure die blutverschmierten Mauern Andorras weißelt. Clemens Berndorff lässt seinen Andri vom verliebten Buben zum überzeugten Juden wachsen. Der vom Publikum bejubelte Landestheater-Rückkehrer Christian Higer zelebriert die Fallhöhe vom Lehrer-Gutmenschen zum versoffenen Lügner. Die Dummheiten des opportunistischen Doktors feuert Sebastian Hufschmidt mit perfektem Timing über die Bühne. Genauso, wie Sven Mattke die dramaturgisch kaum bedeutende Figur des "Jemand" mit dosiertem Humor zum Leuchten bringt.
Sie alle lässt Mohr zusammen mit Horst Heiss (Pater), Lutz Zeidler (Wirt), Katharina Hofmann (Mutter), Gunda Schanderer (Senora), Klaus Müller-Beck (Tischler), Jan Nikolaus Cerha (Geselle) und Julian Sigl (Idiot) zu einem Kraftwerk verwachsen, das die Gedanken des Publikums weit über die Vorstellung hinaus antreibt. "Fein sein, beinander bleiben" spielen sie vor dem langen Premierenapplaus. "Gscheit sein, net einitappen" heißt es in dem Volkslied auch.
"Andorra", Stück in zwölf Bildern von Max Frisch, Regie: Stephanie Mohr, Schauspielhaus Linz, Premiere: 13. Jänner, Termine: 17.-19., 24., 26. Jänner, 3.-5. Februar, 8., 14., 15., 22., 28. Februar, 13. März. Karten: www.landestheater-linz.at, Tel: 0800 218 000.
OÖN Bewertung:
Schon lange nicht mehr habe ich im Landestheater eine so tolle Aufführung erlebt! Danke an alle Beteiligten.