"Die ukrainische Nation bleibt fest entschlossen"
KIEW. Der Krieg in der Ukraine dauert jetzt eintausend Tage. Im Land selbst ist die Stimmung aber optimistischer als im Westen
Nach 999 Tagen Krieg brummen auch in Kiew wieder Dieselgeneratoren. Infolge der massiven Luftangriffe vom Sonntag müssen die ukrainischen Hauptstädter täglich sechs bis acht Stunden auf Strom verzichten. Viele Leute hätten Depressionen, sagt Erfan Kudus, ein krimtatarischer Geschäftsmann und Aktivist, der 2014 aus Jalta nach Kiew floh. "Aber die ukrainische Nation ist vereint." Es gebe Millionen Menschen, die weiter fest entschlossen seien, zu kämpfen. "Weil wenn wir aufgeben, wird es uns nicht mehr geben."
In der Ukraine herrscht seit tausend Tagen Krieg. Kein fröhliches Jubiläum, aber die Stimmung im Land ist hoffnungsvoller als bei den Verbündeten. Laut einer Umfrage der Soziologengruppe "Rejting" glauben 88 Prozent der Ukrainer weiter an einen Sieg, laut dem "Internationalen Kiewer Institut für Soziologie" lehnen 58 Prozent alle Gebietsverzichte gegenüber Russland ab. Der Westen dagegen spricht von Friedensverhandlungen, drängt auf ukrainische Zugeständnisse, die Ukrainer erleben ihre nordatlantischen Partner auch nach tausend Tagen als widersprüchlich bis wirr.
Warten auf Artilleriegeschosse
Zuletzt gab es den rätselhaften Anruf von Deutschlands Noch-Kanzler Olaf Scholz bei Wladimir Putin, aber auch vermeintliche Trump-Telefonate mit Putin und nicht oder nur halb bestätigte Medienberichte über Zusagen aus Washington, Paris und London, die Ukrainer dürften ab sofort westliche Mittelstreckenraketen auf russisches Gebiet abfeuern. Deutschland liefert weiter keine Taurus-Mittelstreckenraketen, dafür 4000 Hightech-Kampfdrohnen, die man tröstend "Mini-Taurus" nennt. Aber vor allem wartet die ukrainische Armee auf dringend benötigte 155-mm-Artilleriegeschosse.
Im März 2023 versprach die EU eine Million davon bis zum Jahresende, laut Josep Borrell waren es bis 11. November 2024 gerade 980.000, auch deshalb feuert die russische Artillerie doppelt so viel. Westliche Medien und Politiker aber erklären das Vorrücken der Russen in der Ostukraine mit ihren unerschöpflichen Menschen- und Rüstungsreserven und diskutieren, warum die Ukraine dabei sei, den Krieg verlieren wird. "Sie machen sich im Prinzip die Narrative des Kremls zu Eigen", sagt der Kiewer Militärexperte Oleksyj Melnyk.
Die westlichen Prognosen seien schon zu Kriegsbeginn pessimistisch gewesen. "Erst zählte man die Widerstandschancen der Ukraine in Stunden, dann in Tagen." Militärisch war es durchaus eine Sensation, dass die Ukrainer im Frühjahr 2022 den russischen Belagerungsring um Kiew sprengten, den Feind dann aus den Regionen Tschernihiw und Sumi vertrieben, später aus Charkiw und der südukrainischen Gebietshauptstadt Cherson. Der halbbankrotte "failed state", als der die Ukraine verspottet wurde, hielt Putins Supermacht stand.
"Der Gegner ist besiegbar"
Auch das langsame Weichen der vergangenen 13 Monate im Donbass betrachten die Ukrainer keineswegs als fatal. Unter dem Strich ist es den Russen in 1000 Tagen gelungen, gerade elf Prozent des ukrainischen Gebiets unter Kontrolle zu bringen. Und nach Ansicht der Experten steigen die russischen Verluste, im Oktober gab es laut dem US-Institut für Kriegsforschung die Rekordzahl von knapp 42.000 Toten und Verletzten, die russische Z-Bloggerin Anastasija Kascherowa klagt, russische Sturminfanteristen überlebten an der Front oft nur zwei Wochen, kosteten dem Staat aber 60.000 bis 120.000 Euro.
In der Ukraine hält man diesen Gegner für besiegbar. Aber Militärexperte Melnyk beklagt, es mangle sowohl der Kiewer Regierung wie den westlichen Verbündeten an einer klaren Strategie. Die ukrainische Führung habe unpopuläre Rekrutierungskampagnen lange vor sich hergeschoben. Von mangelnder Strategie aber zeuge auch das scheibchenweise Bekanntwerden der Erlaubnis der USA, ATACMS-Raketen gegen russisches Gebiet einzusetzen. "Man hätte der Ukraine Dutzende, besser Hunderte Raketen liefern müssen, programmiert auf Ziele, die die Ukraine geliefert hätte, auf Flugplätze, Raketenabschussrampen oder Munitionslager. Und dann hätte man einen Schlag gegen diese Ziele führen müssen, ohne Vorankündigungen." Das wäre eine effektive Strategie gewesen, so Melnyk.
Lässt Trump Kiew im Stich?
Erfan Kudus schließt nicht aus, dass Donald Trump die Ukraine im Stich lässt, dass Russland siegt und die Ukraine als Staat beseitigt. Aber dann müsse sich Westeuropa auf eine Flüchtlingswelle ganz neuer Art gefasst machen. Die ukrainische Armee werde sich zum Großteil nicht gefangen nehmen lassen. "Eine Million Soldaten, davon 300.000 schwer bewaffnete Frontkämpfer, fahren auf Panzern Richtung Westeuropa." Dazu kämen zehn Millionen einfache Zivilisten sowie drei bis fünf Millionen Aktivisten. Sie hätten die Armee unterstützt, betrachteten Putin als Todfeind und müssten unter ihm jahrzehntelange Gefangenschaft, Folter oder Tod erwarten. "Ihr wollt Frieden, für uns aber gibt es in der Heimat keinen Frieden mehr, also kommen wir zu euch." Das klinge nach Orwell, könne aber Realität werden.
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"Im Land selbst ist die Stimmung aber optimistischer als im Westen"
Stimmt diese Behauptung überhaupt oder handelt es sich um ein Wunschdenken einzelner?
Und wenn es stimmt, könnte es nicht auch an den einseitigen Informationen liegen, mit denen die Bürger versorgt werden? Die US-amerikanischen Militärexperten sind nicht ganz so optimistisch.