Ukraine erobert Region um Kiew zurück, hunderte Leichen in Vorort gefunden
KIEW/MOSKAU. In der Ukraine gibt es Hinweise auf ein grauenhaftes Kriegsverbrechen durch die russische Armee.
Im nordwestlichen Kiewer Vorort Butscha sind nach ukrainischen Medienberichten zielgerichtet Männer im wehrfähigen Alter von der russischen Armee umgebracht worden. 280 Leichen seien in einem Massengrab beigesetzt worden, teilte Bürgermeister Anatoly Fedoruk am Samstag mit. Ein AFP-Journalist hatte zuvor bestätigt, dass zahlreiche Leichen in Zivilkleidung in den Straßen lagen. Unterdessen meldet die Ukraine die Rückeroberung der Hauptstadtregion.
"Die russischen Invasoren haben die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 16 bis 60 Jahren in Bucha getötet", schrieb der Journalist Taras Beresowets am Samstag auf Twitter. Einige der Leichen hatten Schusswunden im Kopf, ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden. Der AFP-Reporter sah in einer einzigen Straße mehr als 20 Leichen. Sie alle hätten zivile Kleidung getragen. Einem der Männer waren die Hände gefesselt. Eine andere Leiche wies offenbar eine große Kopfwunde auf. Die leblosen Körper der Männer lagen über mehrere hundert Meter verstreut auf einer Straße in einem Wohngebiet des Vororts.
"Sie verminen sogar Leichen"
Die ukrainische Armee hatte rund um die Hauptstadt eigenen Angaben zufolge etwa 30 Dörfer zurückerobert. Die Behörden sprachen von einem "schnellen Rückzug" der Invasoren, erhoben aber zugleich schwere Vorwürfe gegen sie. So warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj, die abziehenden Truppen hätten Minen hinterlassen. "Sie verminen dieses Territorium. Häuser werden vermint, Ausrüstung wird vermint, sogar Leichen", sagt Selenskyj, ohne Beweise vorzulegen. Er äußerte zudem die Befürchtung, dass der Abzug nur dazu diene, den militärischen Druck auf den Osten und Süden des Landes zu verstärken. "Russische Soldaten werden in den Donbass geholt. Genauso in Richtung Charkiw", erklärte er in einer Videoansprache in der Nacht auf Samstag. "Im Osten unseres Landes bleibt die Lage sehr schwierig."
Gut fünf Wochen nach Kriegsbeginn hat die Ukraine nach eigenen Angaben die gesamte Hauptstadtregion Kiew befreien können. Man habe die Kontrolle über "die gesamte Region Kiew", teilte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Samstagabend mit.
Tschernihiw als "zweites Mariupol"
Nach dem Rückzug aus der Region um Kiew konzentrieren die Russen ihre Angriffe offenbar auf den Osten der Ukraine. Es gebe Luftangriffe auf die Städte Mariupol, Charkiw und Tschernihiw, sagte Präsidentenberater Olexij Arestowytsch am Samstag im ukrainischen Fernsehen. Neben der Rüstungsindustrie seien auch Wohngebiete betroffen.
Der "Feind" versuche, Tschernihiw in ein zweites Mariupol zu verwandeln, meinte Arestowytsch. Die Hafenstadt Mariupol ist in den vergangenen Wochen schwer zerstört worden. Tschernihiw sei aber noch über den Landweg zu erreichen. "Die Einwohner können die Stadt verlassen."
Dagegen seien im Norden und Nordosten russische Soldaten in Richtung Staatsgrenze gedrängt worden, sagte Arestowytsch. Ukrainische Truppen hätten rund um Kiew mehr als 30 Dörfer zurückerobert. Präsidentenberater Michailo Podoljak hatte zuvor von einem "schnellen Rückzug" der russischen Soldaten im Norden berichtet. Moskau wolle "im Osten und im Süden Fuß fassen, um seine Bedingungen hart zu diktieren", so Podoljak. Die Ukraine brauche nun "schwere Waffen", um in besetzte Gebiete in diesen Regionen vorzustoßen "und die Russen so weit wie möglich zurückzudrängen".
Zuvor hatte auch Präsident Wolodymyr Selenskyj die Befürchtung geäußert, dass die Invasoren ihre Gangart im Osten des Landes verschärfen würden. "Russische Soldaten werden in den Donbass geholt. Genauso in Richtung Charkiw", erklärte der Staatschef in einer Videoansprache in der Nacht auf Samstag. "Im Osten unseres Landes bleibt die Lage sehr schwierig."
Truppen aus Tschernobyl abgezogen
Laut ukrainischem Generalstab wurden auch die russischen Truppen aus der Sperrzone um das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl und aus den angrenzenden Gebieten in Belarus zurückgezogen. Sie sollten augenscheinlich in das russische Gebiet Belgorod verlegt werden, von wo der Vorstoß nach Charkiw erfolgt. Das britische Militär ging aber davon aus, dass die Explosionen in einem Tanklager und einem Munitionsdepot in Belgorod die Versorgung der russischen Truppen vor Charkiw bremsen. Wegen des Angriffs leitete die russische Justiz am Samstag ein Strafverfahren gegen das ukrainische Militär ein. Der Vorwurf laute auf "Terroranschlag".
Tausenden gelang die Flucht
Tausenden Zivilisten gelang am Samstag die Flucht aus umkämpften Städten. 765 Zivilisten hätten mit eigenen Fahrzeugen die Hafenstadt Mariupol im Südosten des Landes verlassen, teilte Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk im Nachrichtenkanal Telegram mit. Fast 500 Zivilisten seien aus der Stadt Berdjansk geflohen. Ziel der Menschen aus beiden Städten sei Saporischschja. Zudem seien in Berdjansk zehn Busse gestartet. Am Sonntag solle die Evakuierung dort fortgesetzt werden, sagte Wereschtschuk.
Raketenangriffe auf Großstädte
Russische Truppen hatten in der Nacht auf Samstag erneut mehrere Großstädte im Süden des Landes mit Raketen angegriffen, darunter Dnipro, Poltawa, Krementschuk und Krywyj Rih. Nach russischen Angaben handelte es sich um militärische Ziele wie etwa Militärflugplätze. Trotz der Raketenangriffe - zum Teil von Flugzeugen aus - behauptet die ukrainische Luftwaffe nach eigenen Angaben die Kontrolle über den Luftraum des Landes. "Der Feind hat den ukrainischen Himmel nicht kontrolliert und kontrolliert ihn nicht", betonte Generalleutnant Mykola Oleschtschuk.
Das US-Verteidigungsministerium will der Ukraine inzwischen weitere Waffen im Wert von 300 Millionen Dollar (270 Millionen Euro) zukommen lassen. Unter anderem soll das neue Paket verschiedene Drohnen, Raketensysteme, gepanzerte Fahrzeuge, Munition, Nachtsichtgeräte, sichere Kommunikationssysteme, Maschinengewehre, medizinische Güter und die Bereitstellung von kommerziellen Satellitenbildern umfassen, wie das Pentagon am Freitagabend mitteilte.
Offenbar wollen die USA zusammen mit Verbündeten auch Panzer aus sowjetischer Produktion an die Ukraine liefern. Diese sollten die Verteidigung in der Donbass-Region stärken, schreibt die "New York Times" unter Berufung auf einen US-Beamten. Die Panzer sollten bald dorthin gebracht werden. Das US-Verteidigungsministerium lehnte einen Kommentar ab, das US-Präsidialamt gab zunächst keine Stellungnahme ab.
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