Stiglitz: „Der US-Dollar hat sich nicht als guter Wertspeicher erwiesen“
Die Weltwirtschaft stehe zwar „nicht mehr direkt am Abgrund“, aber es gebe noch eine Reihe von Problemen zu lösen. Vor allem bei der Regulierung der Finanzmärkte sei noch nicht allzu viel geschehen, sagt Stiglitz im OÖN-Interview.
OÖN: Professor Stiglitz, ist die Krise vorbei oder nur unter einem Haufen Geld vergraben?
Joseph Stiglitz: Die Krise ist noch nicht vorbei. Wir stehen zwar nicht mehr direkt am Abgrund, aber es gibt noch eine Menge Probleme. In den USA haben wir immer mehr Zwangsvollstreckungen, zunehmende Schwierigkeiten auf dem Markt für Gewerbeimmobilien und große Finanzsorgen in den Staaten und Kommunen. In Europa erleben wir gerade die Griechenlandkrise und müssen befürchten, dass Ähnliches noch in anderen Ländern passieren könnte.
OÖN: Obwohl die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahre oft als „Jahrhundertkrise“ bezeichnet werden, können wir also nicht davon ausgehen, dass wir für die nächsten hundert Jahre wieder einigermaßen sicher sind.
Stiglitz: Genau, eine Krise ist nie eine Versicherung gegen die nächste Krise. Dass wir seit der Großen Depression viele Jahrzehnte lang relative Stabilität hatten, lag einzig und allein daran, dass die Menschen damals die richtigen Lehren gezogen und die Wirtschaft effektiv reguliert haben.
OÖN: Ziehen unsere Politiker denn heute die richtigen Lehren?
Stiglitz: Leider ist bei der Reform der Finanzmärkte noch nicht viel passiert. Dabei hat die Krise eindeutig gezeigt, dass der Finanzsektor seine volkswirtschaftliche Funktion nicht erfüllt hat: Er soll Risiko kontrollieren, nicht kreieren. Er soll Kapital an der richtigen Stelle bereitstellen, nicht damit zocken. Er soll effiziente Zahlungsmechanismen einrichten, anstatt sich an horrenden Gebühren zu bereichern. Aber obwohl das Finanzsystem rundherum versagt hat, arbeitet es in den USA im Grunde noch genau so wie vor der Krise. Die Europäer sind in ihrer Diskussion zwar schon weiter, aber auch noch weit vom Ziel entfernt.
OÖN: Wie müsste denn eine stabile globale Finanzarchitektur aussehen?
Stiglitz: Es gibt zwei zentrale Reformansätze. Erstens brauchen wir eine globale Reservewährung. Bisher basiert unsere Finanzarchitektur auf dem Dollar, aber der hat sich nicht als besonders guter Wertspeicher erwiesen und wird sicherlich nie wieder die gleiche Rolle spielen wie in der Vergangenheit. Zweitens müssen wir unsere Märkte wieder besser regulieren. Vor der Krise war ja viele Jahre Deregulierung in Mode: Man glaubte an Liberalisierung, ungehinderte Marktkräfte und offene Finanzmärkte. Heute wissen wir, wie falsch das war. Regulierung spielt für eine gut funktionierende Wirtschaft eine ganz entscheidende Rolle, und damit sie wirklich effektiv ist, müssen wir sie global koordinieren.
OÖN: Sie glauben also, dass die ganze Welt sich auf gemeinsame Regeln für Banken, Versicherungen, Aktienmärkte und Finanzströme einigen kann?
Stiglitz: Natürlich ist das sehr schwierig – und wenn sich heute ausgerechnet im Finanzsektor viele für eine globale Regelung einsetzen, liegt das sicher nicht zuletzt daran, dass sie im Stillen darauf hoffen, dass es ohnehin nie dazu kommen wird. Aber man muss ja nicht gleich alles gemeinsam beschließen. Praktikabler ist es, wenn jedes Land erst einmal seine eigenen Regeln verabschiedet, so wie es das zum Schutz seiner Wirtschaft und Bevölkerung für notwendig hält. Hinterher kann man das dann international harmonisieren und zu einem einheitlichen Rahmenwerk zusammenfügen.
OÖN: Bedeutet das nicht einen Rückschritt: mehr nationale Alleingänge, weniger internationale Zusammenarbeit?
Stiglitz: Nein, das bedeutet, dass sich die Globalisierung verändert: Natürlich wird der freie Verkehr von Finanzprodukten beeinträchtigt werden und Länder werden in Zukunft sehr viel vorsichtiger sein, welche Finanzprodukte aus anderen Ländern sie zulassen. Aber das ist eine gute Sache – wir haben ja gesehen, wozu es führt, wenn giftige Hypotheken unkontrolliert über Landesgrenzen hinweg gehandelt werden können.
OÖN: Wie viel Zeit dürfen sich unsere Regierungen für diese Reformen lassen?
Stiglitz: Wenn es so langsam weitergeht wie derzeit in den USA, werden wir wahrscheinlich noch eine weitere Krise erleben müssen, bevor wir uns zu grundlegenden Reformen durchringen. Der nächste Einbruch kann in fünf Jahren kommen oder in 15 - aber ich hoffe inständig, dass wir nicht bis dahin warten werden.
OÖN: Während die westlichen Industrienationen sich nur langsam von der Krise erholen, hat China bereits wieder zweistellige Wachstumsraten. Ist die Volksrepublik der Gewinner der Krise?
Stiglitz: In einer Krise, die global so viel Bruttoinlandsprodukt vernichtet, gibt es keine Gewinner. Aber es hat sich gezeigt, dass China die Krise besser gemanagt hat als wohl jedes andere Land. Deswegen geht die Volksrepublik aus der Krise mit neuem Selbstbewusstsein hervor.
OÖN: Was haben die Chinesen besser gemacht als wir – und was können wir von ihnen lernen?
Stiglitz: Zunächst einmal muss man feststellen, dass China und der Westen auf ganz unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehen und deshalb nicht so ohne weiteres zu vergleichen sind. China ist eine Wirtschaft mit niedrigen Einkommen, die sich noch in einer Übergangsphase zur Marktwirtschaft befindet. Aber eine Sache, die man in China offensichtlich besser verstanden hat als im Westen, ist die Bedeutung von Regulierung. Ist es nicht ironisch, dass wir die Chinesen jahrelang gewarnt haben, ihrem Finanzsystem drohe der Kollaps, wenn sie es nicht nach unserem Vorbild reformieren – und am Ende sind wir selbst zusammengebrochen? Eine weitere Lehre, die man aus Chinas Erfolg ziehen kann, ist, die wichtige Rolle des Staats bei der Förderung von Industrie, Innovationen und Bildung. Zumindest für Entwicklungsländer stellt China damit durchaus ein Modell dar.
OÖN: Allerdings ist höchst umstritten, ob dieses Modell tatsächlich langfristig stabil ist. China kämpft mit gewaltigen Umweltproblemen, grassierender Korruption und wachsenden sozialen Spannungen.
Stiglitz: Ich sehe bei Chinas Wachstumsmodell vor allem zwei Probleme. Das eine ist in der Tat die Umwelt. Das hat die Regierung auch erkannt und ein sehr ehrgeiziges Umweltschutzprogramm aufgelegt. Ich traue ihr zu, dass sie damit Erfolg haben wird. Die größere Herausforderung ist die Transformation von einer exportorientierten Wirtschaft zu etwas anderem. In den letzten 30 Jahren has das Exportmodell gut funktioniert, aber je größer Chinas Marktanteil wird, umso schwieriger wird es, das Wachstum zu halten, zumal in einem Umfeld mit schwachem Wachstum in Europa und Amerika. Auch dieses Problem hat China erkannt. Wir sollten deshalb davon ausgehen, dass Chinas Rolle in der Welt unvermeidlich größer werden wird. Die Volksrepublik ist ja schon heute die zweit- oder drittgrößte Volkswirtschaft, und damit wird sie auch ein größeres Mitspracherecht haben, nach welchen Regeln die Weltwirtschaft funktioniert.
OÖN: Für China sind das gute Aussichten, für den Westen nicht unbedingt. In den USA und Europa symbolisiert die Volksrepublik für viele Menschen die Ängste, die sie mit der Globalisierung verbinden. Ist das gerechtfertigt?
Stiglitz: Diese Ängste zeigen zweierlei: Erstens gibt es eine große Verunsicherung darüber, nach welchen Regeln die Welt künftig funktionieren wird. In den letzten Jahrhunderten war es der Westen, der die Regeln bestimmt hat, und er hat sie so geschrieben, wie es seinen Interessen entsprach. In der neuen Welt geht das nicht mehr, da werden Entscheidungen zunehmend multipolar getroffen. Kein Wunder, dass darüber im Westen viele unglücklich sind. Zweitens hat die Globalisierung dazu geführt, dass die USA
und Europa in vielen Bereichen ihre Wettbewerbsvorteile verloren haben. Das führt zu Umbrüchen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft, die sehr schwierig sind. Wir sollten aber nicht so tun, als wären wir die ersten und einzigen, denen etwas derartiges widerfährt. Man braucht nur in die Geschichte zu schauen: Vor 1820 hat Indien Textilien nach England exportiert, dann haben die Engländer diverse Handelsgesetze erlassen und ihre Militärmacht genutzt, um Indien einzuschränken – mit dem Ergebnis, dass Indien anfangen musste, Textilien aus Großbritannien zu importieren. Das war für Indien damals ein dramatischer Wechsel und hat zur Verarmung des Landes beigetragen. Inzwischen ist es wieder andersherum, wobei die Veränderung diesmal nicht von Politik oder Militär ausgegangen sind, sondern von Marktkräften.
OÖN: In ihrem neuen Buch “Im freien Fall” schreiben sie, die Welt brauche nicht nur eine wirtschaftliche und politische Erneuerung, sondern auch eine moralische. Eine pastorale These für einen Ökonomen.
Stiglitz: Es ist doch offensichtlich, dass der Finanzsektor nicht nur unsere Wirtschaft verzerrt hat, sondern auch unsere Werte. Die Gier hat völlig inakzeptable Ausmaße angenommen. Es ist einfach nicht richtig, wenn Banken wie in den USA die Ärmsten mit Kreditkarten dazu verführen, sich Dinge zu kaufen, die sie sich nicht leisten können. Und wir geben jungen Menschen nicht die richtigen Anreize, wenn man als Banker mit dem Verkauf von schlechten Finanzprodukten ein Vielfaches von dem verdient, was Wissenschaftler, Ärzte oder Lehrer für Arbeit von viel höherem gesellschaftlichem Nutzen bekommen. Geld ist zum Maßstab für richtig und falsch geworden. Deswegen brauchen wir dringend eine Debatte darüber, inwieweit wir der Wirtschaft weiterhin erlauben wollen, unsere Gesellschaft zu prägen – und inwieweit es umgekehrt sein sollte.
ZUR PERSON
Joseph Stiglitz, 67, zählt zu den einflussreichsten Ökonomen unserer Zeit. Der US-Amerikaner war Wirtschaftsberater von Präsident Bill Clinton und von 1997 bis 2000 Chefökonom der Weltbank – ein Posten, den er aus Protest gegen die Vergabekriterien von Hilfsgeldern an Drittweltländer verließ. 2001 erhielt er für seine Forschung zu asymmetrischen Marktinformationen den Nobelpreis. Stiglitz, der an der Columbia University in New York lehrt, trat zuletzt als scharfer Kritiker der Wirtschaftspolitik von US-Präsident Barack Obama in Erscheinung. In seinem neuesten Buch, „Im Freien Fall“, analysiert er die Ursachen und Lehren der Finanzkrise.