In der Halle des Bergkönigs
Während an der Erdoberfläche beinahe jeder noch so entlegene Punkt vermessen, kartografiert und zugänglich ist, sieht es unter Tage ganz anders aus. Die Unterwelt steht nur wenigen Menschen offen. Höhlenforscher gehen und kriechen oft in absolutes Neuland. Hans Schoißwohl aus Windischgarsten ist vom Höhlenvirus infiziert. Die OÖN sind mit ihm gemeinsam abgetaucht und auf Entdeckungsreise in eine unterirdische Schatzkammer gerobbt.
Bereits am Eingang zu dem finsteren Schlund steht fest: Diese Exkursion wird nicht unbedingt ein Sonntagsspaziergang – vielmehr eine enge Partie. Eine Höhle wird im Fachjargon befahren und nicht begangen. Beides ist in diesem Fall nicht ganz richtig. Nur mit mehrmaligen Körperverrenkungen ähnlich einem lebendigen Korkenzieher gelingt es, auf allen Vieren im „Allrad-Antrieb“ über einen Seiteneingang in die Rettenbachhöhle, auch Teufelsloch oder Nockhöhle genannt, abzusteigen. Teufelsloch wirkt jedenfalls sehr zutreffend, die Bezeichnung stammt noch aus den 1930er-Jahren, als dieser Hohlraum im Gestein entdeckt und erkundet worden ist.
Tageslicht aus, Stirnlampe an. Spätestens jetzt erschließt sich der Sinn der speziellen Höhlenforscher-Kleidung. Ein Schleif- statt einem Rucksack, weil für Gepäck am Rücken einfach zu wenig Platz ist. Ein reißfester Overall, genannt Schlaz, Helm, Licht und Handschuhe. Beim Höhlenforschen macht man sich mehr als nur die Hände schmutzig.
Verschlafene Hufeisen-Nasen
Nach ein paar Metern in der felsigen Unterwelt wird die Faszination des 1200 Meter langen Höhlensystems am Ursprung des Rettenbachs und am Fuß des Hohen Nock sichtbar. Die Entdeckungstour unter Tage ist vergleichbar mit einem Nachttauchgang im Meer. Statt Fischen, Korallen und Anemonen tauchen im Lichtkegel der Stirnlampe jedoch ab und an Hufeisennasen-Fledermäuse auf, die den Frühlingsbeginn anscheinend verschlafen haben.
Auf Schritt und Tritt schafft die Natur aus den Werkstoffen Wasser, Kalkstein und Luft Tropfstein-Kunstwerke. Ein Felsvorsprung wirkt wie von einer Karamell-Glasur überzogen, die Oberfläche leuchtet golden, man könnte fast meinen, auf einen Zwergenschatz gestoßen zu sein. Die Höhlengänge sind reich verziert. Sinterfahnen, -röhrchen, -vorhänge, -becken und -zapfen schmücken das Teufelsloch. Doch leibhaftig wird hier nicht der Beelzebub, sondern ein Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein – diese Weisheit ist hier augenscheinlich nachvollziehbar, wie Wassertropfen einen Stein langsam von der Mitte her aushöhlen.
Bizarre Schmuckstücke
Höhlenforscher Hans Schoißwohl kennt jede noch so bizarre Tropfsteinformation beim Namen und erklärt den wesentlichen Unterschied der beiden wohl bekanntesten Ausprägungen. „Stalaktiten hängen von der Decke. Stalagmiten wachsen vom Boden aus empor.“
Worin liegt nun der Reiz in dunkle und enge Löcher zu kriechen, immer mit der Ungewissheit im Schleifsack, was vor einem liegt, ob man stecken bleibt, abstürzt, oder wieder heil an die Oberfläche zurück kommt? „Mich zieht das Geheimnisvolle an und mich treibt ein gewisser Pioniergeist. Ich betrete Orte, an denen noch nie zuvor ein Mensch war“, sagt Schoißwohl, der beruflich bei den Bundesforsten als Gebietsbetreuer tätig ist. „Ich bin seit 45 Jahren Berufsjäger und habe im Lauf der Zeit schon viele Höhleneingänge entdeckt, die mich brennend interessiert hätten, doch weder hatte ich früher ein Seil, noch verfügte ich über die richtige Klettertechnik, oder einen Begleiter, und alleine wagte ich das Höhlenabenteuer nicht.“
Sein Briefträger hat den Windischgarstner vor mittlerweile 15 Jahren mit den Mitgliedern des Vereins für Höhlenkunde in Sierning zusammengebracht, wo Schoißwohl heute stellvertretender Obmann und Schriftführer ist. Mit Gleichgesinnten konnte der Entdecker endlich die geheimnisvollen Öffnungen befahren. Dieser Höhlenkunde-Verein veranstaltete übrigens einst den in ganz Oberösterreich berühmt-berüchtigten Höhlenforscher-Ball im Gasthaus Forsthof. Der Ball ist Geschichte, die Höhlenforschung ist präsent. „Höhlen sind Archive für verschiedenste Wissenschaften“, sagt Schoißwohl. Von Klimaforschern über Geologen bis zu Biologen und Paläontologen. Die Forscher schätzen es laut Schoißwohl heutzutage besonders, dass ihre Archive und Schatzkammern nicht für jedermann zugänglich sind, das Betreten der meisten Höhlen streng geregelt und limitiert ist.
Von besonderen Höhlen, wie zum Beispiel der im Jahr 2000 entdeckten, 26 Kilometer langen „Klarahöhle“ im Nationalpark Kalkalpen, werden nicht einmal die Koordinaten veröffentlicht. Die Klarahöhle gilt als speziell, weil weitgehend unberührt. Sie birgt Schätze wie die „Dicke Berta“, einen gewaltigen Tropfstein, oder das gut erhaltene Skelett eines Höhlenbären. Auch die Rettenbachhöhle ist seit 1973 geschützt und ist nur für eine Handvoll Leute im Jahr und mit Genehmigung zugänglich. Wer doch einmal Höhlenluft schnuppern möchte, der hat dazu in der so genannten „Kreidelucke“ im Nationalpark Gelegenheit. Dort werden auch Höhlenführungen angeboten.
Insgesamt gibt es im Bereich Sengsen- und Hintergebirge 94 vermessene und im Österreichischen Höhlenkataster eingetragene Höhlen. „Jedes Jahr werden in diesem Gebiet ungefähr fünf neue Höhlen entdeckt“, sagt Schoißwohl. Die Hobbyforscher arbeiten mit Luftbildern oder suchen bei Skitouren nach neuen Eingängen. In Österreich spricht man von so genannten Sekundärhöhlen, die hauptsächlich während oder nach den Eiszeiten entstanden sind, weil sich das Wasser einen Weg durch den Stein gefräst hat. Wer eine Höhle entdeckt, darf ihr auch einen Namen geben. Schoißwohl ist Taufpate von gleich mehreren unterirdischen Stollen.
Behände wie eine Katze tänzelt der 60-Jährige über Steine, hangelt sich Hilfs-Seile entlang und schiebt sich durch schmale Durchlässe. Seine Begleitung von der Zeitung ähnelt an den Kletterstellen auch einer Katze, allerdings einer jungen, die sich nicht mehr vom Baum traut und von der Feuerwehr gerettet werden muss. Aber in der Höhle nützt kein Jammern und es gibt auch kaum Aussicht auf Rettung. „Die meisten Höhlenforscher sind auch Höhlenretter.“ Doch wenn unter Tage etwas passiere, gebe es meistens aus. „Eine Faustregel lautet, wer eine Stunde lang in den Berg vorgedrungen ist, muss damit rechnen, dass eine Rettungsaktion bis zu drei Tage dauern kann.“
Doch für solche Gedanken ist im engen Stollen ohnehin kein Platz. Die Rettenbachhöhle gilt zudem bei Höhlenprofis als leicht und ungefährlich. Der Weg ist unterteilt in einzelne Abschnitte, die alle einen Namen tragen. Über die Schmugglerstiege und die Lange Kluft geht es hinauf zum Mittagberg. Endlich wieder aufrecht stehen, verschnaufen und die Glieder ausschütteln. Die Temperatur liegt konstant bei ungefähr sieben Grad plus, doch unter dem Schlaz ist das Höhlenforschen eine schweißtreibende Angelegenheit. Das Wasser tropft nicht nur von den Steinen, sondern auch von der Stirn. Wieder blinkt und glitzert es von den Wänden, der Hohlraum ist mächtig, so muss es in der von Edvard Grieg vertonten „Halle des Bergkönigs“ aussehen. Die Stirnlampen leuchten kaum bis zur Decke, man meint regelrecht, die Urkraft zu spüren, mit der sich vor Millionen Jahren das Sengsengebirge aufgefaltet hat. Einfach gigantisch.
Von Zwergen und Nymphen
Wer allerdings zu oft nach oben auf die blinkenden Steinformationen guckt, bekommt bald nasse Füße. Vom Mittagberg geht es nämlich ziemlich feucht Richtung Vordersee, Angstlacke und Schönsee. Und schön sind sie wahrhaftig, diese unterirdischen Wasserreservoirs, die smaragdgrün leuchten. Da lässt es sich leicht nachvollziehen, wie früher Sagen und Mythen von Nymphen, Zwergen und lichtscheuen Kreaturen entstanden sind.
Falls im Teufelsloch einmal Zwerge oder Nymphen gehaust haben, müssen sie wohl umgezogen sein. Auch der Fährmann – angeblich fixer Bestandteil der Unterwelt – lässt sich nicht blicken, obwohl er beim Weg über die unterirdischen Tümpel sehr willkommen gewesen wäre.
Doch die Wissenschaftler interessieren sich ohnehin nicht für Fabelwesen, sondern viel mehr für seltene Insekten und Amphibien, die teilweise nur hier gefunden worden und gut dokumentiert sind.
Die Geräusche des Wassers gepaart mit der totalen Finsternis außerhalb des Lichtkegels und einer Portion Einbildungskraft klingen mancherorts wie menschliche Stimmen oder Radiogedudel. Ein paar Schritte weiter herrscht dann wieder Stille, eine stabile Psyche ist an diesem Ort von Vorteil.
Heil wieder ausgespuckt
Ablenkung gibt es genügend: An den Wänden, an der Decke und am Boden sind die unterschiedlichsten Muster und Auswüchse zu erkennen, die das Wasser aus den Felsen gewaschen hat. „In der Betrachtung dieser Vielfalt könnte man sich stundenlang verlieren“, sagt Schoißwohl.
Über Schmugglerstiege und Regenhalle geht es wieder zurück Richtung Erdoberfläche. Ohne einen Experten an der Seite, würde man sich allerdings in den schmalen Felsengängen innerhalb weniger Minuten verirren. Doch das Teufelsloch spuckt uns nach der mehr als dreistündigen Exkursion verschwitzt, schmutzig aber ansonsten heil wieder aus. Der schmale Eingang wird wieder versperrt. Wenn es weiter regnet, steht die Höhle ohnehin bald unter Wasser. Hans Schoißwohl wird in Kürze nicht nur neue (unterirdische) Welten entdecken, sondern auch einen neuen Lebensabschnitt. „Im August gehe ich in den Ruhestand.“ Dann bleibt ihm mehr Zeit für seine Lieblingsbeschäftigungen: Höhlenforschen, Musik und Fotografieren.