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Buchtipp: Abgesang einer ernüchterten Generation

Von Christian Schacherreiter, 10. März 2018, 00:04 Uhr
Abgesang einer ernüchterten Generation
Die Autorin bezeichnet "Die Jahre" als "unpersönliche Autobiografie". Bild: Suhrkamp

Christian Schacherreiter ist erfreut, dass "Les années" von Annie Ernaux endlich in deutscher Übersetzung erschienen ist

Die Schriftstellerin Annie Ernaux ist bei uns nicht so prominent wie in Frankreich. Vielleicht hat es deswegen fast zehn Jahre gedauert, bis ihr autobiografisches Buch "Les années" (2008) endlich in deutscher Übersetzung erschienen ist. Glücklicherweise hat man sich bei Suhrkamp doch noch der Sache angenommen, denn "Die Jahre" ist ein Werk, auf dessen Lektüre man ungern verzichten würde, insbesondere dann, wenn man zur Generation der 1940 geborenen Autorin gehört.

Annie Ernaux sagt zwar selbst, sie sei im Jahr 1968 schon ein bisschen zu alt gewesen, um Teil der französischen Jugendrevolte zu sein. Immerhin war sie damals schon verheiratet, Mutter und berufstätig. Dennoch sind die Erlebnis- und Gedankenwelten, von denen sie erzählt, typisch für die Nachkriegsgeneration, nicht nur für die französische, auch für die österreichische. Das Leben in der französischen Provinz der Fünfzigerjahre war nicht weniger konservativ als hierzulande. Man war katholisch, patriotisch, hatte vor der Ehe keinen Sex und glaubte an Autoritäten. General de Gaulle war die politische Symbolfigur dieser Zeit.

Sexuelle Befreiung

Mit der jungen, gebildeten Generation, die Matura machte, nach Möglichkeit in Paris studierte, Simone de Beauvoir las, Sartre, Camus und etwas später Foucault und Lacan, kam ein neuer gesellschaftspolitischer Wind auf. Wer auf sich hielt, wählte links, befreite sich von sexuellen Tabus, veränderte seinen kulturellen Habitus, diskutierte eine neue Pädagogik herbei und träumte von einer gerechten Gesellschaft: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.

Schön wär’s! "Die Jahre" ist vor allem ein Buch der Desillusionierungen. Stärker als die sozialpolitische Vision war allemal die schöne, neue Warenwelt, die von den Achtundsechzigern zwar als "Konsumgesellschaft" kritisiert, sehr wohl aber zur Erfüllung eigener Bedürfnisse genutzt wurde. Und dann kamen jene Phänomene in die Welt, an denen die traditionellen politischen Instrumente der Linken versagten: entfesselte Märkte, digitale Kommunikation, Islamismus, eine neue Blütezeit für die antidemokratische, rassistische Rechte. Mitterrand war tot, und Le Pen feierte Wahlerfolge. Aber auch im Privatleben führten die Versprechungen des befreiten Subjekts nur selten zu glücklicheren Verhältnissen, denn das Glück der eigenen Freiheit findet bekanntlich seine Grenzen an der Freiheit anderer.

"Die Jahre" ist ein autobiografisches Buch, aber Annie Ernaux vermeidet das Personalpronomen "ich". Sie betrachtet ihre Fotos aus verschiedenen Lebensphasen, bezieht Distanz und spricht – wie eine Mentalitätshistorikerin – von "ihr", einer Frau, die eine soziale Gruppe repräsentiert. Tatsächlich erweist sich diese "unpersönliche Autobiografie" (Ernaux) als kluge, erhellende und stilistisch schöne Erzählung einer Generation, die schon bald Geschichte sein wird.

Annie Ernaux: "Die Jahre", aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 256 Seiten, 18 Euro

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