Sag mir, wie war Weihnachten?
Wie sich Weihnachten verändert hat und welche Auswirkungen das hat, darüber sprachen die Kinder-, Jugend- und Familienpsychologin Isabella Baumgartner und der Historiker Michael John.
Karg waren sie, die ersten Weihnachten im Frieden. Zur Erleichterung über das Kriegsende mischten sich Emotionen, ausgelöst durch den Verlust und die Abwesenheit von Angehörigen. Weihnachten 1945 war es für Kinder etwas Besonderes, wenn ein Bleistift unter dem Christbaum lag – oder der Papa aus der Gefangenschaft heimgekehrt ist. Heute geben wir im Schnitt 450 Euro pro Kopf für Geschenke aus.
Können Sie sich noch an Ihr erstes Weihnachtsgeschenk erinnern?
Baumgartner: Ja, es gab ja damals diese dicken Kataloge von den Versandhäusern. Ich habe ein Bild von einem Puppenhaus ausgeschnitten und auf einen Wunschzettel geklebt. Meine Eltern sind Nachkriegskinder, die haben mir an diesem Heiligen Abend aber eine warme Strumpfhose und eine Skihose geschenkt. Sie haben das Bedürfnis nach Wärme gestillt, und ich war stinksauer auf das Christkind, dass es mir nur so praktikable Dinge schenkt. Und meine Mutter war sauer, weil ich aufs Christkind sauer war. Am nächsten Abend, bei meiner Oma, habe ich es aber dann bekommen, das war so 1979.
John: Mein erstes Geschenk war ein blauer Kuschelhase, mein blaues Hasi. Das war 1959, ich war fünf Jahre alt.
Welche Bedeutung hatte und hat Weihnachten für Sie?
Baumgartner: Es gibt gar keinen so großen Unterschied. Damals habe ich am Heiligen Abend genossen, dass einen Gang runtergeschaltet wurde. Das Haus wurde durchgeputzt, dann wurde gekocht, alle wurden gebadet, und dann war Ruhe. Man durfte nur miteinander sein, und das ist mir an diesen Tagen heute noch wichtig.
John: Bei uns war Weihnachten immer was los. Mein Vater war Musiker im Landestheater – diese Szene war einfach anders. Die Leute kamen von irgendwo her, auch Vertriebene waren dabei – und einige haben mit uns gefeiert. Später bin ich mit meiner Familie, um dem Stress zu entkommen, ins Ausland geflogen. Aber selbst da waren die Impulse so stark, dass wir einen echten Christbaum nach Südafrika mitnahmen – wir waren nicht die Einzigen! Allerdings wurde er dort konfisziert. Die Kinder haben geweint, es war ein Drama, als der Zollbeamte den Baum der Vernichtung preisgab. Wir mussten dann einen Plastikbaum schmücken. Zurück: Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre war die Gesellschaft noch sehr katholisch geprägt – ich auch. Das Christkind war sehr wichtig. Aber Geschenke, das war eine karge Geschichte.
1945 gab es nichts. Kanzler Leopold Figl sagte angeblich in seiner Radioansprache 1945 ... "Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben, ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot ..." Wie muss man sich Weihnachten 1945 vorstellen?
John: Die Rede wurde 1945 nicht aufgenommen. Figl hat 1965 aus dem Gedächtnis rekapituliert, was er gesagt haben könnte. In der Wiener Zeitung war es teilweise abgedruckt worden: "In wenigen Tagen feiern wir Weihnachten. Weihnachten ist für uns ein Hochfest der Familie. Es wird heuer leider kein Weihnachten sein, wie wir es gerne haben möchten, auf den Christbäumen, wenn ihr welche haben werdet, wird ein schönes Päckchen voll Sorgen hängen." Weihnachten 1945 war wichtig, weil Österreich ein christliches Land war und es unter der NS-Zeit antikatholische Akzente gab. 1945 konnte man frei Weihnachten feiern. Allerdings: Das reine Fest der Familie, wie Figl meinte, war ein ideologisches Klischee. Das gab es 1945 kaum. Die Familien waren fragmentiert, viele Männer in Gefangenschaft, Teile der Familie an anderen Orten. Klassische kleinfamiliäre Weihnachten, das war es mit Sicherheit nicht.
Wenn Figl sagte: "Päckchen voller Sorgen" – gab es Unterschiede zwischen Land und Stadt?
John: Nein. Es war eine ganzheitliche Katastrophe. Nicht nur wegen der Bombenabwürfe, sondern auch, was die Sicherheit betraf. Im Mühlviertel konnte man vergewaltigt oder beraubt werden. Marodierende Banden zogen herum, auch zu Weihnachten, die Sorgenlage war, glaube ich, am Land nicht geringer als in der Stadt.
Wie wichtig waren die ersten Weihnachten im Frieden für die Kinder? Es gab ja bestimmt Traumatisierungen.
Baumgartner: Das Feiern des Fests ist ein Ritual, und ein Ritual gibt Sicherheit. Aber wie Herr John gesagt hat, die Sicherheit war nur in bestimmten inneren Räumlichkeiten gegeben. Diese Feste zu feiern, ist etwas Wichtiges, weil es uns trotzdem mit den vertrauten Menschen, die uns umgeben, zusammenbringt, uns im Moment inneren Frieden und Sicherheit gibt und gleichzeitig ermöglicht, Trauer zuzulassen. Man muss sich vorstellen, so ein Abend hat ja unterschiedliche Aspekte beinhaltet: Einerseits endlich keine Bomben mehr, andererseits Gefahren von außen – und dann die vielen Menschen, die gestorben sind. Auch Trauer zuzulassen, das war eine große Herausforderung.
Dient Weihnachten in so einem Umfeld der Heilung, oder ist es Salz in die offenen Wunden?
Baumgartner: Untersuchungsergebnisse in der Psychotraumatologie belegen, dass Rituale wichtig sind, weil sie im Hier und Jetzt stattfinden. Jetzt ist der 24. Dezember 1945. Jetzt sind wir in Sicherheit, mit den Menschen, mit denen wir zusammen sein können.
John: In Linz gab es zu der Zeit zirka 40 Prozent Zugewanderte – Vertriebene und alle möglichen Leute. Das beschauliche Fest, das gab es: bei der Oberschicht. Aber am Bindermichl oder in den ehemaligen Lagersiedlungen war das anders. 1945 waren die Dinge im Fluss, da war nicht klar, wo wer ist, da fragte man sich noch: "Wo ist der Kurt?" Da war man glücklich, wenn der Papa da war. Das größte Geschenk war die Familienzusammenführung. Erst ab 1948, 1949 normalisierte sich das.
In den 1950er-Jahren ging es steil bergauf, der Wirtschaftsboom setzte ein. Waren die Traumata da bereits am Abklingen?
Baumgartner: Nein, sie sind neuronal abgespeichert. Wir können lernen, damit umzugehen. Bei solchen Festen ist die Gefahr eines Auflebens groß, weil wir sehr sensibel sind. Darum sollte man sich psychotherapeutisch vorbereiten, sich vor Augen führen, wo ich Gefahr laufe, in so ein Flashback – ein Wiedererleben – zu kommen.
Wie veränderte sich Weihnachten?
John: Von 1950 bis 1960 steigerten sich die privaten Konsumausgaben um 71 Prozent, bei Nahrungsmitteln waren es 50 Prozent, Wohnungseinrichtungen, Hausrat 228 Prozent – da wurde der Gabentisch üppiger. Die 1960er-Jahre waren eine Zeit der Hochkonjunktur, aber der Massenkonsum kam in den 1970er-Jahren, als sich breite Schichten mehr leisten konnten. Das wilde Beschenken mit Dingen, die nicht nützlich sind, das kam in den 1990er-Jahren. Heute schenken wir laut einer Konsumerhebung 52 Prozent Gutscheine. Also mach damit, was du willst.
Baumgartner: Die Menschen sind hilflos, die Beschenkten, Eltern, Kinder, Partner haben alles. Das hat sich über Generationen entwickelt. Wenn Kinder zu mir kommen und erzählen, was sie bekommen haben, dann ist das eine lange Liste, oft haben sie vergessen, was bei der ersten Bescherung ausgepackt wurde. Ich merke aber eine Veränderung: Viele Junge sagen, wenn wir mit diesem Konsum so weitermachen, dann bekommen wir die Klimakrise nicht in den Griff.
Was halten Sie vom neuesten Smartphone unterm Christbaum?
Baumgartner: Kinder brauchen in Zeiten von Corona und Homeschooling eine Ausstattung, um kommunizieren zu können. Werde ich gefragt, ob jemand seinem zwölfjährigen Kind ein Handy kaufen soll, antworte ich: selbstverständlich. Aber nicht jedes Jahr, nicht immer das neueste. Und kauft auch etwas ohne Stromanschluss, ein Gesellschaftsspiel – vor allem den Jüngeren etwas, das keine Musik macht, ihre Sinne schont und schult.
Hat die Geschenkeflut ab den 1990er-Jahren auch damit zu tun, dass von der Generation, die – geprägt vom Krieg – mit wenig zufrieden war, immer weniger lebten? Ist da eine Art Korrektiv verloren gegangen?
John: Sicher. Aber die Gesellschaft ändert sich – durch die Wirtschaftspolitik und durch Weltpolitik. Nach dem Ende der Zweiteilung machte sich ein starkes neoliberales Gedankengut breit. Die Welt wurde kapitalistischer. 2020, 2019 gibt der durchschnittliche Österreicher 450 Euro pro Kopf für Weihnachtsgeschenke aus, das ist irre viel. Vor zehn Jahren waren es 360 Euro. Der durchschnittlich beschenkte Österreicher bekommt 4,8 Geschenke. Jedoch wird auch "sich Zeit zu nehmen für jemanden" als Geschenk wichtiger.
Baumgartner: Von mir gibt es auch Zeitgeschenke. Ich kaufe wenig, die Ausnahme war freilich, als meine Kinder noch Kinder waren.
Physisch Zeit mit jemandem zu verbringen, ist wohl etwas, was sich aktuell viele Menschen wünschen.
Baumgartner: Richtig. Es liegt an jedem Einzelnen, diese Chance zu nützen und eine Veränderung einzuführen. Der Mensch hat aber ein Problem: Sobald das Gewohnte zurückkehrt, fällt er in alte Muster zurück. Das zu reflektieren, hat mit Reife und Lebenserfahrung zu tun. Bei Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr wird es nicht zu einer Änderung kommen. Aber vielleicht bei uns.
John: Wir sind im Zeitalter des Massenwohlstands. Das Wirtschaftswachstum ist eng gebunden an die Konsumgesellschaft – durch Corona kann es zu einer Delle kommen, weil das schrankenlose Einkaufen nicht möglich ist. Weihnachten ist aber ein wirtschaftliches Event geworden. Darüber bin ich als Historiker erstaunt, weil es ja ein christliches Fest ist – freilich sehr stark zelebriert mit der Geschenkkultur. In der Vergangenheit gab es eine Entwicklung nach oben, obwohl die Menschen in Oberösterreich, aufgrund von Kirchenaustritten und Migration, nur noch zu 60 Prozent katholisch sind – in Linz sind es knapp über 50, in Steyr 41, in Wien unter 40 Prozent. Aber das tut dem Ganzen keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Und die Werbekraft erfindet immer neue Events …
Frau Baumgartner, Sie haben doch als Kind sicher nicht Halloween gefeiert, oder?
Baumgartner: Natürlich nicht.
John: Man findet neue Events, nimmt Anlehnung in anderen Ländern – siehe Black Friday. Konsumwahnsinn. Bei Weihnachten ist der Boom unabhängig davon, ob 50 Prozent katholisch sind oder – wie in den 50er-Jahren – 90 Prozent. Das ist weit entfernt vom ursprünglichen Sinn. Da können sie pädagogisch einwirken, aber es gibt wirtschaftliche Kräfte, die wollen, dass konsumiert wird und nicht bei einem Essen Zuckerl ausgetauscht werden. Ich bin gespannt, ob durch Corona eine kurzfristige Umkehr einsetzt – ich glaube nicht. Aber es gibt Schichten, die darüber nachdenken. Meine jüngere Tochter zum Beispiel, die will nichts, sie denkt so, wie Frau Baumgartner gesagt hat.
Haben Sie ans Christkind geglaubt?
John: Ich schon.
Baumgartner: Das tue ich immer noch… (lacht)
Welche Bedeutung hat Weihnachten heute für die Kinder? Geschenke, Geschenke, Geschenke, oder doch auch noch ein wenig vom ursprünglichen Sinn und dem Glauben ans Christkind?
Baumgartner: Das hängt von der Entwicklungsphase ab. Die Kinder sind zwischen drittem und sechstem Lebensjahr im magischen Denken, da gibt es das Gespenst unterm Bett, Hexen, Geister und das Christkind – das magische Wesen dahinter ist etwas Wichtiges. Zwischen sechs und neun findet ein Übergang hin zum realen Denken statt, sie realisieren: So ein kleines Wesen, das in einer Nacht zu allen Kindern fliegt und Geschenke bringt, das gibt’s nicht, Mama, Papa, das seid ihr, gebt es zu! Wenn sie dann aber vor dem Christbaum stehen, mit Spritzkerzen und Lametta, dann kippen sie wieder hinein in diese magische Phase. Bis zum neunten Lebensjahr ist es aus entwicklungspsychologischer Sicht schön, dieses Fest mit dem Glauben ans Christkind feiern zu dürfen. Dann beginnt die Pubertät, da stehen dann die Geschenke im Vordergrund – es ist uncool, an der Geschichte Jesu und dem Christkind festzuhalten. Mit 15, 16 Jahren beginnen die Kinder mit einer Bildung von persönlichen Werten und denken darüber nach, wie sie Weihnachten feiern wollen. Ich merke bei 16-jährigen Mädchen, dass sie ganz stark beginnen, Familienfeste nach ihren Vorstellungen zu gestalten: "Das war so schön, ich möchte das heute auch wieder haben."
Spüren Sie auch noch diese Magie?
John: Das ist ein Kuriosum. Wenn ein Baum da ist, dann wirkt das. Das hängt davon ab, wie man geprägt wurde. Dem kann man sich schwer entziehen. Heute, denke ich, kann ein Umdenken stattfinden. Nichts gegen teure Geschenke, nichts gegen einen Schokobrunnen, aber es sind viele unnütze Geschenke, die nicht zu einer Verbesserung der Welt beitragen. Im Moment haben wir die Luxusausformung von Weihnachten. Wenn sich das etwas reduziert, wenn man den Konsumismus wieder etwas hinterfragt, dann wäre das gut für die Bedeutung von Weihnachten.
Baumgartner: Emotionale Einflüsse von außen, wie weihnachtliche Düfte oder der Christbaum, sind Auslöser, die uns zurückversetzen in frühere Erfahrungen, das spüre ich zu Weihnachten ganz deutlich. Wenn ich den Duft der Bratwürstel rieche, habe ich immer vor Augen, wie ich Weihnachten noch bei meinen Eltern gefeiert habe. Stehe ich heute vor dem Christbaum, falle ich in die Zeit zurück, als ich noch ans Christkind geglaubt habe, und denke ein wenig wehmütig: Die schönste Zeit, Weihnachten zu feiern, war, als ich noch in der magischen Phase war. «
Isabella Baumgartner (46) wuchs im Bezirk Vöcklabruck auf und studierte Psychologie in Salzburg. Seit fast 20 Jahren hat sie in Linz eine eigene Praxis und hat sich auf Kinder-, Jugend- und Familienpsychologie spezialisiert. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt in Linz.
Michael John (66) wuchs in Linz auf und studierte Geschichte und Politikwissenschaften in Wien. Seit 1986 arbeitet er am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz. Er ist Vater von drei Kindern und lebt in Linz.