Mord oder Notwehr? "Ich habe einfach Angst um mein Leben gehabt!"
OBERNBERG/RIED. Der Geschworenenprozess wurde am Abend vertagt. Im Dezember wird ein gerichtlicher Lokalaugenschein am Tatort durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft plädierte auf Mord, die Verteidigung argumentiert mit Notwehr.
Unstrittig ist, dass ein 22-Jähriger in der Nacht auf den 19. Jänner seinen Vater in einem Einfamilienhaus in Obernberg mit mehreren Messerstichen in Schulter, Bauch und Rücken getötet hat. Der 59-Jährige starb in den frühen Morgenstunden im Spital. Heute wird im Schwurgerichtssaal rekonstruiert, was sich am Tattag und möglicherweise in den Tagen zuvor zugetragen haben soll. Genauso unstrittig wie die tödliche Messerattacke ist, dass im Haus zuvor Schüsse gefallen sind, abgefeuert vom Vater aus einer registrierten Langwaffe. Ein Schuss soll vom ersten Stock von der Stiege in Richtung Erdgeschoß abgegeben worden sein, der zweite dann in Richtung Wohnzimmer. Laut Staatsanwaltschaft lag dabei keine Notwehr vor, da keine Angriffsaktion des Vaters mehr vorgelegen sei. Die Verteidigung ihrerseits wird mit ziemlicher Sicherheit mit Notwehr argumentieren.
Staatsanwalt: "Ein zwischenmenschlicher Supergau"
"Jeder weiß natürlich, worum es heute geht. Am 19. Jänner hat sich in Obernberg ein, wie ich sagen würde, zwischenmenschlicher Supergau, wie man sich diesen nicht grauslicher vorstellen kann. Der Sohn tötet den eigenen Vater mit zahlreichen Messerstichen", sagt Staatsanwalt Alois Ebner beim Vortrag der Mordanklage. Das Verhältnis zwischen dem alkoholabhängigen Vater und Sohn sei seit längerem schlecht gewesen. Ab dem 14. Lebensjahr des Angeklagten sei dieser immer mehr auf die schiefe Bahn geraten, immer mehr hätten die Drogen dessen Leben bestimmt, so Ebner. "Schon mit 14 Jahren kassierte der Angeklagte seine erste Vorstrafe. Die Mutter hat immer zu ihm geholfen. Klar, er war das einzige Kind, aber ob das gut war, ist heute nicht das Thema", sagt Ebner. In den Folgejahren verübte der Beschuldigte Raubüberfälle mit einer Axt auf Tankstellen. "Er war längere Zeit im Gefängnis. Im Mai 2022 wurde er bedingt entlassen", sagt Ebner.
Der Streit zwischen Vater und Sohn hat sich in den Tagen vor der Tat mehr und mehr aufgeschaukelt. Am 19. Jänner gegen zwei Uhr früh dürfte der Angeklagte seinen Eltern mitgeteilt haben, dass er wegen Tablettenkonsums nicht in der Lage sei, zu seinem Arbeitsplatz zu fahren. Der Beschuldigte begann kurz zuvor eine Lehre als Bäcker. Der Vater sei mit den Worten "des homma glei" in den ersten Stock gegangen und habe aus einem Tresor ein Gewehr geholt. Der 59-Jährige gab einen ersten Schuss ab. Die Kugel prallte, so Ebner, von der Mauer ab. "Dann ist der Mann nach unten gegangen und einen zweiten Schuss ins Wohnzimmer abgegeben. Über der Couch hat die Kugel eingeschlagen, auf jemanden gezielt hat der Mann nicht. Ich bin überzeugt davon, dass er seinen Sohn, wieder einmal, aus dem Haus vertreiben wollte", sagt der Staatsanwalt in seinem Eingangsplädoyer. Der Versuch, das Gewehr erneut zu repetieren, sei fehlgeschlagen. "Das muss der Angeklagte mitbekommen haben. Diese Situation hat er ausgenutzt. Im Wohnzimmer lag ein Jausenmesser. Er stürmte hinaus in das Vorhaus, wo er begann auf seinen Vater einzustechen", sagt Ebner. Die neun sehr tiefen Messerstiche in Schulter, Bauch und Rücken überlebte der Innviertler nicht. Er rettete sich noch zu den Nachbarn, verstarb aber kurze Zeit später im Krankenhaus. Laut Ebner habe er zu den Nachbarn noch gesagt, dass er "Warnschüsse" abgegeben habe.
Verteidiger Mauhart: "Muss den Teil der Lebensgeschichte erzählen"
"Kinder sind oft indirekt Opfer", sagt Verteidiger Andreas Mauhart zu Beginn seines Eingangsplädoyers. Dieses werde länger ausfallen, kündigt Mauhart an. Sein Mandant sei trotz seiner 22 Jahre eigentlich kein Erwachsener. "Man merkt, er ist ein großes Kind, Stand dritte oder vielleicht vierte Klasse.
Er müsse den persönlichen Teil der Lebensgeschichte seines Mandanten übernehmen", sagt Mauhart. "Er war das einzige Kind, sein alkoholkranker Vater hat mit allen gestritten, vor allem wenn er besoffen war, war er unausstehlich. Die Mutter war und ist vom Leben schwer gezeichnet." Seinem Mandant falle es nach wie vor schwer, schlecht über seinen Vater zu sprechen. Auf die Frage, ob er geschlagen worden sei, habe dieser ihm gesagt: "Naja, fünf bis sieben Mal pro Jahr. Einmal musste ich mit einem kaputten Trommelfell ins Krankenhaus", schlüpft Mauhart in die Rolle des 22-Jährigen. Ständige Beleidigungen und "Watschn" habe es hingegen permanent gegeben. Einmal sei es so gewesen, dass der Vater mit dem Sohn in den Wald gefahren sei. "Dort hat er zu meinem Mandanten gesagt: komm, stell dich zum Kofferraum. Mein Mandant hat gedacht, dass da die tote Mama drinnen liegt. Mehr brauche ich nicht sagen, da zieht es mir eine Gänsehaut auf", sagt Mauhart.
"Mein Mandant war sicher, dass ihn der Vater jetzt erschießen wird."
Laut Verteidiger habe sich die Tat völlig anders als von der Staatsanwaltschaft dargestellt abgespielt. Der erste Schuss habe, so Mauhart, nur zehn Zentimeter über dem Kopf der Mutter eingeschlagen. "Wenn das ein Typ mit 2,5 Promille intus mit einem großkalibrigen Gewehr macht, dann ist das kein Warnschuss", sagt Mauhart. Der 22-Jährige habe sich hinter der Tür im Wohnzimmer versteckt. "Das war der einzige Ort, wo man ihn nicht gleich gesehen hat", sagt Mauhart. Der Schuss habe genau dort eingeschlagen, wo der Angeklagte wenige Augenblicke zuvor noch gesessen sei. "Sein Kopf wäre explodiert wie eine Melone", sagt Mauhart. Sein Mandant habe gehört, dass der Vater erneut repetiere. "Dann hat er sich gedacht, jetzt oder nie und hat versucht, dem Vater die Waffe zu entreißen." Es sei zu einer Rangelei gekommen. Die Messerstiche seien in seiner Lage die einzige Möglichkeit gewesen, einem Gewaltverbrechen zu entgehen. "Mein Mandant war sich sicher, dass ihn der Vater jetzt erschießen wird." Für Mauhart ein klarer Fall von Notwehr, klarer gehe es nicht.
"Ohne Lokalaugenschein am Tatort wird es nicht gehen!"
Mauhart kündigt an, weitere Beweisanträge zu stellen. Ohne einen Lokalaugenschein am Tatort werde es nicht gehen. "Eine 3D-Tatortrekonstruktion wird einem schwindlig, da kennt sich niemand aus. Man muss dort gewesen sein. Das Haus ist klein, niedrig und hellhörig. Ein Bodybuilder würde nicht einmal über die Stiege hinaufkommen", sagt Mauhart.
"Ich dachte, ich muss sterben"
Der Angeklagte, der während der Tat unter dem massiven Einfluss von "Benzos" stand, sagt, dass er immer wieder geschlagen worden sei, auch Tritte habe er regelmäßig kassiert. Es habe wiederholt Betretungsverbote gegeben. So auch vor der Tat. Eine Nacht habe er im Auto geschlafen, dann habe ihn der Vater wieder ins Haus geholt. "Ich glaube, weil das meine Mama unbedingt wollte", sagt der 22-Jährige.
Als sein Vater begann, mit der Waffe im Haus zu schießen, habe er Todesangst gehabt. "Ich dachte, ich muss sterben", sagt der Beschuldigte und fügt hinzu: Ich habe in dem Gerangel so lange auf ihn eingestochen, bis er die Waffe losgelassen hat. In so einer Situation denkt man nicht nach, man hat schließlich Angst um sein Leben." Welche Gefühle haben sie in dieser Situation gehabt, fragt der vorsitzende Richter des Geschworenensenats, Andreas Rumplmayr: "Ich habe einfach Angst um mein Leben gehabt. Etwas anderes denkt man da nicht. Man ist unter Panik, Wut oder Hass war es nicht. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich wollte nicht sterben."
Trotz seines Schicksals sagt der Beschuldigte auf Nachfrage der beisitzenden Richterin, dass sein Vater grundsätzlich "kein Schlechter" gewesen sei. "Er war halt nicht so einfühlsam", sagt der Angeklagte, der sogar das Geburtsjahr seines Vaters groß auf dem Bauch tätowiert hat. "Gott ist das Wichtigste im Leben für mich", sagt der Beschuldigte, der mehrere religiöse Motive tätowiert hat.
"Wie viel Zeit ist zwischen dem ersten und zweiten Schuss vergangen", will Staatsanwalt Ebner wissen? Wenig, ich würde sagen, zwischen drei und vier Sekunden", antwortet der Obernberger. Auf die Frage des Anklägers, warum er nicht versucht habe, seinem Vater im Zuge des Gerangels das Gewehr wegzunehmen? "Ich hatte Angst, man kann nicht rational denken."
"Helft mir, helft mir, er hat mich gestochen!"
Ein Nachbar, der wenige Monate vor der Tat in das Haus daneben eingezogen war, sagt, dass er mit der Familie kaum Kontakt hatte. Lediglich einmal habe ihm der Angeklagte beim Tragen einer Couch geholfen. Nach der Messerattacke sei der 59-Jährige bei ihm vor der Tür gestanden und habe "helft mir, helft mir, er hat mich gestochen", sagt der Zeuge. Dann seien der Angeklagte und die Mutter aus dem Haus gekommen. Der Angeklagte habe gebrüllt: "Du hast auf mich geschossen."
Der Mann gibt an, dass er versucht habe, die Situation zu beruhigen. "Ich habe nicht leicht Angst, aber ich habe geglaubt, dass er (der Angeklagte, Anm. d. Red.) zu mir rüberkommt. Er war sehr aggressiv", sagt der Zeuge. Das Opfer habe lediglich gesagt, dass er einen Warnschuss abgegeben habe. Erst dann habe er wahrgenommen, dass der Nachbar schwer verletzt sei und schon sehr viel Blut verloren habe.
Der Angeklagte sei außerordentlich aggressiv gewesen, schildert die Tochter des Nachbarn. Die Mutter des Beschuldigten bzw. Frau des Opfers habe keineswegs entsetzt reagiert. "Sie hat nur geschrien, er hat ja zuerst geschossen." Das schilderte der Vater der Zeugin kurz zuvor etwas anders. Dieser gab zu Protokoll, dass die Mutter des Angeklagten sehr wohl gefragt habe, wie es dem Opfer gehe.
Sie sei froh, dass ihre Kinder in der Tatnacht nicht aufgewacht seien. "Alles bei uns hat ausgeschaut, wie ein Schlachtfeld", sagt die Zeugin, die dem Opfer im Haus Erste Hilfe geleistet hatte.
Die Mutter des Beschuldigten beantragt den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Befragung. Der Berufsrichtersenat entscheidet, dem Antrag stattzugeben. Nach der rund zwei Stunden langen Zeugeneinvernahme der Frau wurde die Öffentlichkeit gegen 16.40 Uhr wieder in den Saal gelassen.
Lokalaugenschein in Obernberg soll durchgeführt werden
Als wahrscheinlich letzter Tagesordnungspunkt steht eine genau 3-D-Tatortrekonstruktion auf dem Programm. "Ich sitze immer genau da", sagt der Angeklagte während die 3-D-Rekonstruktion das Wohnzimmer zeigt. Der Beschuldigte meint den Platz auf der Couch, wo direkt dahinter das Einschlussloch zu sehen ist. Kurz zuvor sei er genau dort gesessen, sagt der 22-Jährige.
Bei dieser 3-D-Tatortbegehung wird es nicht bleiben. Verteidiger Mauhart beantragt einen gerichtlichen Lokalaugenschein vor Ort. Weiters werden von Mauhart ein Ballistisches Gutachten sowie weitere Zeugen beantragt. Kurz vor 18 Uhr wird der Prozess schließlich vertagt. Der Lokalaugenschein ist für Mitte Dezember geplant, der zweite Verhandlungstag im Landesgericht Ried findet voraussichtlich im Jänner statt.