Bisher 340 Leichen in Butscha geborgen
KIEW. Nach dem Massaker in der Stadt Butscha bei Kiew sind ukrainischen Medienberichten zufolge deutlich mehr als 300 Leichen von Zivilisten geborgen worden.
Bis Sonntagabend seien bereits 330 bis 340 leblose Körper eingesammelt worden, schrieb die Zeitung "Ukrajinska Prawda" am Montag unter Berufung auf einen Bestattungsdienst. Am Montag wurde die Suche nach weiteren Opfern fortgesetzt. Einige Leichen seien in Hinterhöfen vergraben, hieß es.
Die Bilder aus der Vorortgemeinde der Hauptstadt, wo nach dem Abzug russischer Truppen zahlreiche Leichen von Bewohnern auf den Straßen gefunden worden waren, haben weltweit Entsetzen ausgelöst. Die Ukraine macht für das Massaker russische Truppen verantwortlich, die die Stadt bis vor kurzem besetzt hatten. Moskau bestreitet das.
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Am Sonntag hatte die ukrainische Seite bereits vom Fund eines Massengrabes mit etwa 280 Toten berichtet, die während der russischen Angriffe nicht würdig hätten bestattet werden können. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft kündigte eine Obduktion der Leichen an, um das Verbrechen aufzuklären. Auch internationale Ermittler sollen eingeschaltet werden. Insgesamt sollen im Kiewer Gebiet bisher die Körper von mehr als 400 toten Zivilisten geborgen worden sein.
Die deutsche Bundesregierung und andere Staaten kündigten neue Sanktionen gegen Russland an. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat einen Stopp russischer Gaslieferungen ins Gespräch gebracht. Im Kreise der EU-Minister müsse ein Stopp der Gaslieferungen "miteinander besprochen werden". Deutschland zählte bisher zu den Bremsern innerhalb der EU.
Die britische Regierung meldete, dass russische Truppen, die sich aus dem Nordwesten zurückzögen, in den Osten der Ukraine verlagert würden. Dort will Russland die gesamte Donbass-Region erobern. Russische Truppen greifen zudem offenbar weiter die südostukrainische Hafenstadt Mariupol an.
- ZIB 1: Osteuropa-Korrespondent Christian Wehrschütz kommentiert die Kriegslage im Südosten der Ukraine.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach sich angesichts der Bilder aus Butscha für neue Sanktionen aus. Es gebe sehr klare Hinweise auf Kriegsverbrechen in der Ukraine, für die die russische Armee verantwortlich zu sein scheine, sagte Macron dem Radiosender France Inter.
Am Wochenende waren aus der Stadt Butscha Videos aufgetaucht, die zahllose getötete Menschen zeigen, die auf den Straßen liegen. Reuters-Reporter sahen einen Mann mit Kopfschuss, dessen Hände hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Der stellvertretende Bürgermeister Taras Shapravskyj sagte, dass 50 der 300 gefundenen Toten Opfer von Hinrichtungen der russischen Armee seien. Reuters konnte die Zahlen nicht überprüfen und auch nicht feststellen, wer für die Tötungen verantwortlich ist.
Die russische Regierung weist die Verantwortung zurück. Russland beantragte für Montag eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates. Bei der Sitzung solle über die "Provokation von ukrainischen Radikalen" diskutiert werden, schrieb der Vertreter Russlands bei der UNO, Dmitri Polanski, auf der Plattform Telegram.
Russland wittert Rufschädigung
Russland wirft den USA und der Nato im Zusammenhang mit den Bilder von Toten in Butscha Manipulation vor. Die unmittelbar auf die Veröffentlichung erfolgten Erklärungen des Westens deuteten darauf hin, dass "die Nachricht bestellt" worden sei, sagt die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. Damit solle der Ruf Russlands geschädigt werden. "Wer steckt hinter der Provokation? Natürlich die USA und die Nato", sagt Sacharowa in einem am späten Sonntagabend ausgestrahlten Fernsehinterview.
Der russische Chefermittler Alexander Bastrykin kündigte schließlich am Montag offizielle Ermittlungen zu den Vorgängen an, die er als "Provokation" der Ukraine bezeichnet. Die Ermittlungen sollten auf der Grundlage eingeleitet werden, dass die Ukraine "absichtlich falsche Informationen" über die russischen Streitkräfte in Butscha verbreitet habe. Ukrainische Behörden untersuchen derweil mögliche russische Kriegsverbrechen.
- ZIB 1: Osteuropa-Korrespondent Christian Wehrschütz hat in Saporischschja im Südosten der Ukraine freiwillige Helfer an die vorderen Linien begleitet, die Soldaten unterstützen.
Gefahr durch russische Minen
Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba sprach von einem "absichtlichen Massaker" und forderte weitere Sanktionen. "Die Russen wollen so viele Ukrainer wie möglich vernichten", twitterte er. Die russischen Streitkräfte hätten "eine totale Katastrophe und zahlreiche Gefahren" hinterlassen, schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Facebook. Er warnte vor vermintem Gebiet und weiteren Luftangriffen.
Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" dokumentierte nach eigenen Angaben eine Reihe "offenkundiger Kriegsverbrechen" der russischen Truppen in mehreren Gebieten der Ukraine – neben der Hauptstadtregion seien diese auch in den Regionen Tschernihiw im Norden und in Charkiw im Osten des Landes verübt worden.
Nach Angaben aus Kiew sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine elf Bürgermeister entführt worden. Amtsträger aus Gemeinden in den Regionen Kiew, Cherson, Charkiw, Saporischschja, Mykolajiw und Donezk befänden sich in "Gefangenschaft", erklärte Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk am Sonntag.
Die Bürgermeisterin von Motyschyn bei Kiew, Olga Suchenko, sowie ihr Mann seien von russischen Soldaten festgenommen und getötet worden.
Bildergalerie: Ukraine-Krieg: Brände nach Luftangriff auf Odessa
Galerie ansehenAngriffe auf Odessa
- Die russischen Truppen setzten gestern ihre Angriffe auf den Osten und Süden der Ukraine fort. Ziel war auch die Hafenstadt Odessa. Aus dem Verteidigungsministerium in Moskau hieß es, von Schiffen und Flugzeugen aus seien eine Ölraffinerie und drei Treibstofflager bei Odessa beschossen worden.
- Brände: Wie der Stadtrat von Odessa mitteilte, kam es daraufhin zu Bränden in mehreren Stadtteilen. Auf Fotos war Rauch über der Hafenstadt am Schwarzen Meer zu sehen. Dem Stadtrat zufolge wurden einige Raketen von der Luftabwehr abgefangen. Später berichtete auch der Bürgermeister der rund 130 Kilometer südöstlich von Odessa gelegenen Stadt Mykolajiw, Olexander Senkewytsch, von mehreren Raketenangriffen.
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