Eine Welt, in der die Hände singen
Ein Ort, an dem gehörlose Menschen mit Mehrfach-behinderung Geborgenheit und Gemeinschaft finden: Vor 20 Jahren wurde die Lebenswelt Schenkenfelden eröffnet.
Lächeln – mehr Kommunikation geht nicht. Wer als Hörende in die Lebenswelt Schenkenfelden eintaucht, bekommt eine vage Ahnung, wie es sein könnte, unverstanden durch die Welt zu gehen. Während alle mit Gebärdensprache plaudern und die Hände im Gespräch durch die Luft wirbeln, ist der Gast plötzlich auf einen Dolmetscher angewiesen. Geduldig übersetzt Primar Johannes Fellinger die Fragen der Bewohner und die Antworten der Besucherin. So ist das also, nicht dabei zu sein. Anders, als im Urlaub. Schnell macht sich Hilflosigkeit breit.
Ganz anders fühlt Fellinger. Die Lebenswelt ist nicht nur ein Teil des Institutes für Sinnes- und Sprachneurologie der Barmherzigen Brüder sondern auch sein Herzensprojekt. Er scherzt und tröstet, hört zu und gibt Ratschläge. Vor 20 Jahren hat der Primar diese Einrichtung aus der Taufe gehoben: Ein Platz, wo gehörlose Menschen wohnen und arbeiten, leben und glücklich sein können. Alle haben ein weiteres Handicap, sind blind, sitzen im Rollstuhl, haben eine Autismus-Spektrum-Störung oder psychische Probleme. Hinter allen liegt ein schwieriges Leben, viele wurden geschlagen und missbraucht. "Es ist ein Privileg, mit diesen Menschen zu arbeiten", findet Fellinger.
Zu Beginn eine Liebesgeschichte
Angefangen hat alles in den 1950er-Jahren mit einer großen Liebe: "Meine Mutter war eine hübsche und gebildete Dame – mein Vater ein damals mittelloser, gehörloser Künstler", sagt Fellinger. "Eine Tante erlaubte – gegen den Willen der anderen Familie –, dass mein Vater sich im Kuhstall im Markt 18 in Schenkenfelden ein Atelier einrichten durfte", sagt der Primar. Sieben Jahre mussten seine Mutter und sein Vater warten, bis sie sich dann doch das Jawort geben durften.
"Der Architekt wollte in das frühere Atelier Toiletten einbauen. Ich war dagegen", erinnert sich Fellinger. Heute befindet sich dort der Andachtsraum der Lebenswelt Schenkenfelden. Freitagfrüh füllt sich das schlichte Gewölbe. Gut zwanzig Menschen warten gespannt auf das Evangelium. "Gläubig zu sein, ist nicht notwendig. Die Jesus-Geschichten sind eine Bedienungsanleitung für ein gutes Zusammenleben", erklärt Fellinger. Bescheiden sitzt er in der letzten Reihe. Dann ist er dran, geht nach vorne, zückt einen Pinsel und malt die Bibelgeschichte in flotten Strichen auf ein Plakat. Doch nicht nur die fast schon lyrischen Bilder sprechen, auch Fellingers Mimik, seine Hände und sein ganzer Körper geben leidenschaftlich das Wort Gottes wieder. Auch als Gast fühlt man sich schnell geborgen und willkommen.
Andacht im Dialog
Aus den Gehörlosen werden Zuhörer. Sie treten in einen Dialog mit dem Geschichtenerzähler. Eine der Bewohnerinnen, Brigitte, springt auf und eilt nach vorne, bespricht mit dem Primar den Inhalt der Evangelienstelle, deutet und lacht. Und dann wird gesungen – mit den Händen natürlich.
"Wie jemand glaubt, ist ein tiefes Geheimnis", sagt Fellinger. Ihm ist es ein Anliegen, dass die frohe Botschaft erlebbar gemacht wird. Da wird umarmt und auf den Rücken geklopft, andere sitzen Hand in Hand. Sichtbare und spürbare Nächstenliebe, ohne viel zu fragen.
Nach der Andacht geht’s an die Arbeit: Die einen stricken und fädeln, die anderen flechten Körbe oder formen Becher und Schüsseln aus Ton. Auch die Pflege des Ortsbildes ist einer der Aufgabenbereiche. Sinn im Leben, das braucht eben jeder.
Lebenswelt im Haus der Ahnen
"Die Lebenswelt hängt nicht von mir ab, aber mit mir zusammen – und mit meiner Frau Barbara, meinem gehörlosen Schwiegervater und meinem Vater." Mit Letzterem verband den Arzt eine tiefe Freundschaft, ohne viele Worte. Dass sich im Haus seiner Ahnen jetzt eine ganz besondere Lebenswelt entfaltet, gefällt dem Linzer gut. "Als das Projekt Mitte der 90er- Jahre fast gescheitert wäre, hat mich das fast umgebracht." Heute ist die Lebenswelt, in der 35 Menschen mit Beeinträchtigung aktiv sind, fest in Schenkenfelden verankert. Engagierte Mitarbeiter, teils selbst von Gehörlosigkeit betroffen, begleiten die Bewohner freundschaftlich.
Schön haben es die Menschen in der Lebenswelt. In dem behutsam renovierten und barrierefrei adaptierten Haus schwingt Wohlwollen und Geborgenheit mit. Zusätzlich zum Haus, in dem die Tagesaktivitäten stattfinden, bieten zwei Gebäude Wohn- und Schlafraum. Die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt – und die Freude, am Leben zu sein. "Denn lachen kann man nicht alleine", sagt Fellinger.
„Wir haben viel gelacht“
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Dieser Spruch passt im besten Sinne auf die Ausstellung im Museum „Gerstlhaus“ in der Lebenswelt Schenkenfelden. Dafür hat OÖN-Fotograf Volker Weihbold alle 25 Bewohner abgebildet. Dass der Linzer lieber Menschen fotografiert, die nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen, kam dem Projekt entgegen.
„Mehr als Hallo kann ich in Gebärdensprache nicht sagen“, so Weihbold. Dementsprechend war an eine normale Konversation mit den zu Fotografierenden nicht zu denken. Dass dem leidenschaftlichen Bildermacher trotzdem feinsinnige, individuelle Porträts gelungen sind, ist einem längeren Prozess zu verdanken. Darauf mussten sich sowohl Fotograf als auch die keineswegs alltäglichen Fotomodelle einlassen. „Die Menschen in der Lebenswelt sind sehr authentisch. Wenn es sie freut, fotografiert zu werden, haben sie eine Freude. Wenn sie nicht wollen, dann hat man keine Chance“, erinnert sich Weihbold.
Nonverbale Vermittlung
Mit einem der Bewohner, der partout nicht fotografiert werden wollte, ließ sich der Fotograf auf einen längeren nonverbalen Dialog ein – und siehe da, am Schluss entstand in bestem Einvernehmen eines der schönsten Bilder der Serie. „Wir haben viel gelacht“, blickt Weihbold auf einen schönen Arbeitstag zurück.
Die ästhetischen Bilder in der Lebenswelt lassen sich aufklappen: Dahinter verbirgt sich die Lebensgeschichte der Bewohner. Der Betrachter bekommt Einblicke in Herkunft, Begabungen und Vorlieben der Fotomodelle. Weitere Bilder in den aufgeklappten Alkoven runden die kurzen Texte ab.
Die Ausstellung in der Lebenswelt Schenkenfelden, Markt 18, ist noch am 15. September von 14 bis 16 Uhr und auf Anfrage zu besichtigen. Tel. 07214/4432
3 Fragen an Volker Weihbold
Wann sind Sie zum ersten Mal mit der Lebenswelt Schenkenfelden in Kontakt gekommen?
Ich war vor 20 Jahren bei der Eröffnung mit dabei – damals noch als Redakteur, der einen Artikel über das Projekt verfasste. Mich hat damals schon fasziniert, dass die Lebenswelt mitten in einem Mühlviertler Ort liegt. Primar Johannes Fellinger hat da etwas Klasses auf die Beine gestellt – aus einem inneren Antrieb heraus.
Warum haben Sie diese Fotos kostenlos gemacht?
Ich wollte etwas zurückgeben. Das finde ich selbstverständlich, wenn es einem selbst gut geht. Das Fotografieren war sehr lustig.
Was verbindet Sie mit Primar Fellinger?
Er ist der Grund, warum ich mich als Fotograf massiv weiterentwickelt habe. Ich bin einmal im Flugzeug nach Frankfurt neben ihm gesessen und habe ihm erzählt, dass ich mich verändern und eigentlich gerne die Meisterprüfung für Fotografie machen möchte. Dann hat er gefragt: Ja warum machen Sie es nicht? Und das habe ich getan.