Kommunizierende Bronchien
Jetzt bin ich also Stadtschreiber in Wels. In der Liste meiner bisherigen exotischsten Berufe ist dieser Job der drittschillerndste, nach Bremsschirmpacker auf Sylt und Aufzugs-DJ in Tokio.
"Was macht eigentlich so ein Stadtschreiber?", fragen mich die Kinder von Wels, wenn sie mich sehen, am Ärmel zupfend. Tja, erkläre ich den ärmelzupfenden Kindern, das weiß ich selbst nicht so genau, es klingt ein bisschen wie Nachtwächter und Hofnarr, und im Grunde ist Stadtschreiber eine Mischung aus beidem. Als ich den Job bekam, wurde mir keine Gebrauchsanweisung mitgeliefert, nach dem Motto: Beobachte uns und unsere Stadt und beschreibe, sowohl uns als auch dich, wie du uns beobachtest, und das, was dann zurückschaut.
Denn es schaut ja immer etwas zurück, es macht etwas mit einem. Das nennt man Psychogeographie. Also hat Wels jetzt einen als Bremsschirmpacker ausgebildeten Psychogeographen, das erzähle ich den Kindern, und sie schauen mich wissend an. Ich komme aus Lüneburg, das ist eine Stadt in Norddeutschland, sie ist etwa gleich groß wie Wels. Lüneburg ist reich geworden durch Salz, man fand Sole unter der Stadt, zapfte sie ab, verkochte sie und exportierte Salz als so genanntes weißes Gold. Natürlich gibt es im Kurpark von Lüneburg ein prachtvolles Gradierwerk, eine Konstruktion mit an Zweigen heruntertropfendem Salzwasser, nur ist das seit einigen Jahren außer Betrieb, die Sole ist versiegt. Und was finde ich hier in Wels? Ein schönes Gradierwerk. Nun schnürt der Stadtschreiber jeden Tag um das Gradierwerk, weil er nämlich Keuchhusten hat, auch das erzähle ich den Kindern, weil es eine Kinderkrankheit ist, ich aber nicht mehr ansteckend bin, und die Krankheit auch als "100-Tage-Husten" bezeichnet wird, ich das niemandem wünsche, jedem rate, sich dagegen impfen zu lassen, aber dafür ist es bei mir ja nun zu spät, weshalb ich eben nur um das Gradierwerk schnüren kann, meine armen Bronchien von der salzhaltigen Luft massieren lasse. Ich bin nicht der Einzige, immer wieder dreht ein Welser oder eine Welserin eine Runde um die Anlage, man spricht nicht miteinander, man nickt sich zu, man ahnt, was den oder die andere plagt, man atmet eine diesbezügliche Frage einfach ein und atmet sie als Antwort aus. Kommunizierende Bronchien. Vieles wäre einfacher, wenn man statt Meinungen und Deinungen, Wahlergebnissen und Konflikten, Missverständnissen und Ungerechtigkeiten einfach nur die Lungen miteinander kommunizieren ließe, in der Hoffnung, dass der verdammte Keuchhusten endlich wegginge.
Aber der Stadtschreiber von Wels ist bei etwa Tag 75 seines 100-Tage-Hustens, also alles wird gut und vieles besser, auch wenn es nicht danach aussehen mag. Und auch das sage ich den Kindern von Wels.