Die WANDerung
Seit sie "Die Wand" gelesen hat, lässt Gertraud Weghuber jene Frau aus Molln nicht los, die den Roman geschrieben hat. Die pensionierte Lehrerin hat Bernhard Lichtenberger und Volker Weihbold (Fotos) zu ihrer "LiteraTour auf den Spuren von Marlen Haushofer" mitgenommen.
- Seit sie "Die Wand" gelesen hat, lässt Gertraud Weghuber jene Frau aus Molln nicht los, die den Roman geschrieben hat.
- Die pensionierte Lehrerin hat Bernhard Lichtenberger und Volker Weihbold zu ihrer "LiteraTour auf den Spuren von Marlen Haushofer" mitgenommen.
Auf den Spuren von Marlen Haushofer
Ein Moped braust vorbei, zweigt in die Zufahrt zu dem Haus mit der Nummer 5 und dem ausgebleichten Hirschgeweih an der Fassade ab. Auf dem Roller sitzt ein junges Mädchen im Trachtenkleid. Sie wohnt hier. Auf dem Verputz des früheren Forsthauses hängt eine stählerne Tafel: "In diesem Hause wurde am 11. April 1920 die Schriftstellerin Marlen Haushofer als Tochter des Graf Lamberg’schen Oberförsterehepaares Heinrich und Maria Frauendorfer geboren." Hin und wieder klopften deshalb Leute bei ihnen an, "das nervt schon ein bissl", sagt die 14-jährige Lea, das motorisierte Dirndl im Dirndl.
Von der anderen Seite der schmalen Straße ist das sanfte Plätschern des Baches zu vernehmen. "Hier hat die kleine Marlen gespielt, das war ihr Refugium. Den kleinen Bruder hat sie durch den dichten Brennnesselwald getrieben. Dafür gab’s aber Schläge", erzählt Gertraud Weghuber. Seit Jahrzehnten spürt die 65-jährige pensionierte Deutsch-Lehrerin, die der Weg der Liebe von Linz nach Molln führte, den Texten, Gedanken und Lebenslinien der Mollner Autorin nach.
Den Ausgang nimmt ihre "LiteraTour auf den Spuren von Marlen Haushofer" bei der Wallfahrtskirche in Frauenstein, wo Marlen auf den Namen Maria Helene getauft wurde. Unmittelbar daneben steht deren alte, wenig schmucke Volksschule. "Hier verbrachte sie eine unglaublich schöne Zeit. Sie war wissbegierig, hat Bücher verschlungen", sagt Weghuber. Heute steht das Gebäude leer, so wie vieles in Frauenstein.
"Es ist ein sterbender Ort. Keine Schule. Kein Geschäft. Und die Jungen gehen weg", sagt unsere kundige Begleiterin. Den einzigen Anziehungpunkt bildet in der Kirche die Schutzmantelmadonna aus dem Jahre 1510. Und für die, die sich noch an ihn erinnern, vielleicht das Grab des 1998 verstorbenen Schauspielers und Moderators Hans-Joachim Kulenkampff.
Von der vorgelagerten Kapelle aus fällt der Blick auf die Kremsmauer, während Gertraud Weghuber ein Manuskript aus der Tasche fischt und liest: "Der Himmel ist blau und sehr tief, manchmal treibt Weißes über dieses Stückchen Blau, und das ist eine Wolke. Wolke ist etwas Rundes, Fröhliches und Leichtes." Es sind Zeilen aus Haushofers autobiografischem Kindheitsroman "Himmel, der nirgendwo endet" (1966), der mit dem Eintritt in Internat und Klosterschule der Ursulinen abschließt, der für die Zehnjährige Isolation, Einsamkeit und Misstrauen bedeutete.
Kein Sonnenstrahl
Links unter uns windet sich ein Karrenweg durch gewellte Wiesen und Weiden. Auf ihm schlenderte die kleine Marlen mit ihrem Schulranzen heimwärts ins Effertsbachtal, von dem sie selbst sagt, dass es von November bis März kein Sonnenstrahl erreiche. Hinter dem Geburtshaus verengt sich der Graben stetig, das Verbotsschild für Fahrräder verkündet den Beginn der Forststraße, die markierungslos dem Hauptschauplatz von Haushofers Opus magnum "Die Wand" (1963) zustrebt: das Jagdhaus, in dem die unbekannte Ich-Erzählerin lebt, durch eine unsichtbare Wand von der Welt abgeschnitten.
Vorbei an einem Marterl, an den zahmen Kaskaden des Baches, der auch eine zerstörerische Wildheit an den Tag legen kann, geht es zügig bergauf. Da taucht sie auf, die 1924 erbaute Lackenhütte, in der die Autorin als Kind viel Zeit mit dem Förstervater verbracht hat, nahe an der Natur im ausgedehnten Revier. "Privat. Kein Zutritt", mahnt seit einiger Zeit ein Schild. Die unspektakuläre, mit schwarzem Holz getäfelte Hütte hat ohnehin nichts Einladendes. Näher rückt einem das Bild der eingeschlossenen Roman-Heldin, die ihre Gedanken niederschreibt: "Durch die Wand wurde ich gezwungen, ein ganz neues Leben zu beginnen, aber was mich wirklich berührt, ist immer noch das gleiche wie früher: Geburt, Tod, die Jahreszeiten, Wachstum und Verfall."
Auf dem Rückweg hat Gertraud Weghuber für sich jene Stelle gefunden, an der sie die unsichtbare Wand verortet: rechts Felsen, links der Bach, und im Kopf die Frage: Was wäre, wenn? Wenn wir uns an einer plötzlichen Barriere die Nase blutig schlugen? Wenn wir, entrückt von der Zivilisation, auf uns allein gestellt wären? "Die Wand kann vieles im Leben bedeuten", sagt die Mollnerin. "Manchmal weiß man eben nicht, wie es weitergeht."
Für uns geht es jedenfalls weiter zum "Museum im Dorf". Wir huschen vorbei an den Exponaten der neuen Sonderausstellung "40 Jahre Rotes Kreuz Molln", um zu vier Vitrinen im hinteren Teil des Raumes zu kommen, die Marlen Haushofer gewidmet sind: Fotos, Schulzeugnisse, Zeitungsausschnitte, das rote Kostüm und die Halskette aus 65 weißen Korallen, die sie 1968 zur Verleihung des österreichischen Staatspreises trug, sind zu sehen. Und die Todesanzeige. Haushofer starb 1970 mit 49 Jahren an Knochenkrebs.
Dass sie und ihr Werk nicht vergessen werden, ist auch ein Verdienst der LiteraTour von Gertraud Weghuber, die gerne Goethe zitiert: "Wer den Dichter will verstehen, muss in Dichters Lande gehen."
Marlen Haushofer - Eine Zerrissene
Zwischen Familienpflicht und Schreibpassion
Marlen Haushofer wurde am 11. April 1920 in Frauenstein geboren. 1938 maturierte sie am Linzer Gymnasium der Kreuzschwestern. Nach dem Reichsarbeitsdienst studierte sie Germanistik in Wien, bricht ab, bringt 1941 ihren unehelichen Sohn Christian zur Welt. Im selben Jahr heiratet sie den angehenden Zahnarzt Manfred Haushofer, mit dem sie ab 1943 Sohn Manfred hat. Die Ehe wird geschieden, später erneuert.
Der Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach dem Schreiben und den familiären Pflichten, die das Rollenbild von ihr verlangte, machte Haushofer zu einer Zerrissenen. Isolation und Einsamkeit, der innere Kampf zwischen Anpassung und Rebellion ziehen sich durch das Werk der Autorin, die auch als Vorreiterin einer emanzipatorischen Literatur gesehen wird.
Werke: u. a. „Die Wand“, Himmel, der nirgendwo endet“, „Wir töten Stella“
Zur Person: Gertraud Weghuber
Die gebürtige Linzerin kam vor 41 Jahren nach Molln, wo sie bis zu ihrer Pensionierung Deutsch in der Hauptschule unterrichtete. Sie LiteraTouren auf den Spuren heimischer Schriftsteller (u. a. Bernhard, Stifter, Fussenegger). Info: gertraud.weghuber@webspeed.at
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