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Der große Krieg und seine Folgen

02. August 2014, 00:04 Uhr
Der große Krieg und seine Folgen
Herfried Münkler schildert in seinem neuesten Buch den Verlauf des Ersten Weltkrieges. Bild: Tobias Bohm

Herfried Münkler reiht sich ein in die Riege der Buch-Autoren, die den Ersten Weltkrieg beleuchten. OÖN-Korrespondentin Christine Zeiner hat mit dem renommierten Berliner Politikwissenschafter gesprochen.

Herr Münkler, warum soll uns 1914 noch interessieren?

Herfried Münkler: Die unmittelbaren politischen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges sind mit dem Mauerfall, den Veränderungen in Mitteleuropa, dem Zusammenbruch der Sowjetunion eigentlich verschwunden. Aber die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges bleiben, einmal abgesehen von dem beendeten Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich um die Hegemonie in Europa. Es bleiben die Ergebnisse des Zerfalls der multinationalen und multireligiösen Imperien des Ostens, der Donaumonarchie, des Zarenreichs, des Osmanischen Reichs. Donaumonarchie heißt: Balkanproblem. Zarenreich heißt: Kaukasus, inzwischen auch Ukraine. Osmanisches Reich heißt: Naher Osten, Mittlerer Osten. Überall in diesen postimperialen Räumen ist so etwas entstanden wie ein Territorialstaat, der teilweise von sich behauptet, ein Nationalstaat zu sein, was nicht wirklich stimmt. Und der Zerfall des Iraks, Syriens, des Libanons lässt erwarten, dass demnächst auch weitere Staaten von einem Zerfall ergriffen sein werden, Jordanien etwa.

Gäbe es denn all diese Problemfelder ohne den Ersten Weltkrieg nicht?

Das ist schwer zu sagen. Ein Krieg ist ja eine kataklysmische Beschleunigung von Vorgängen. Sturzbachartig fließen hier die Dinge zusammen. Die Politik hat keine Zeit mehr dafür, etwas zu bearbeiten. Alles zieht mit ungeheurer Geschwindigkeit an den Menschen vorbei, bricht über sie herein. Von daher kann man sagen: Hätten sich das Zarenreich, die Donaumonarchie, auch das Osmanische Reich in politischen Prozessen transformiert und reformiert, in denen man sehr viel mehr Zeit gehabt hätte, dann ist es wahrscheinlich, dass viel stabilere und belastbarere Lösungen gefunden worden wären als das, was zustande gekommen ist.

War die politische Führung 1914 gar nicht mehr handlungsfähig?

Das ist einer der spannenden Punkte des späten Juli, frühen August 1914. Die Politik agiert unter den Bedingungen von Massenheeren: Es führen nicht mehr ein paar zigtausend Mann einen Feldzug durch, es werden Millionen in Bewegung gesetzt. Das ist ein ungeheurer Organisationsaufwand. Die Politik steht eigentlich dabei und staunt nur noch, wie – im deutschen Fall – die Aufmarschabteilung des Generalstabs im Prinzip alles übernimmt und bestimmt. Insofern hat die Politik abgedankt und hat auch erst mal, als das Kämpfen begonnen hat, keine Chance mehr.

Gab es denn Bemühungen, den Krieg zu beenden?

Ja, die gab es relativ früh von Papst Benedikt XV. Es gab auch Bemühungen aus dem deutschen Reichstag heraus mit der Wende der Zentrumspartei und deren Annäherung an die Sozialdemokratie. Und es gab Bemühungen von Kaiser Karl, dem Nachfolger Franz Josephs. Auch die sozialistische Internationale wollte sich von der katholischen Internationalen nicht auf Dauer ins Hintertreffen bringen lassen und machte entsprechende Versuche. Und das Deutsche Reich hatte schließlich die Vorstellung, man könnte die Russen 1915 zu einem Separatfrieden zwingen. Fast könnte man sagen: Rollte dieser Kriegswagen einmal, gab es keine Hände, die stark genug waren, um in die Speichen zu greifen und ihn zum Stehen zu bringen.

Gibt es ein Jahr, ein Datum, an dem Sie ansetzen würden als Ausgangspunkt für die "Urkatastrophe"?

Ja, 1911. Das ist ein ganz eigentümliches Jahr. Auf der einen Seite wird 1911 klar, dass der Dreibund, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, so nicht funktionieren wird, weil sich Italien zunehmend entfernt. Das hat mit dem Libyen-Krieg zu tun, Italien strebt zur Kolonialmacht auf, wird dadurch verwundbar. Die Deutschen können den Italienern im Mittelmeer nicht helfen. Und die Italiener orientieren sich zunehmend hin zu Briten und Franzosen. Das hat zur Folge, dass das Deutsche Reich nur noch einen Verbündeten hat, dem es unter allen Umständen den Rücken stärken muss, nämlich Österreich-Ungarn. Der sozusagen Zwang zum Blankoscheck beginnt 1911. Das ist aber nicht alles.

Nämlich?

In diesem Jahr 1911 beginnt Reichskanzler Bethmann eine Art Entspannungspolitik gegenüber den Briten, das ist die eine Sache. Die andere: Es beginnt gleichzeitig ein Rüstungswettlauf, denn die Deutschen müssen ja irgendwie die zwölf fehlenden Divisionen kompensieren. Also setzt man auf eine Heeresvergrößerung. Die Franzosen machen Ähnliches. Sie verlängern die Dienstzeit von zwei auf drei Jahre. Die Russen wiederum stellen ganz neue Armeen auf. 1911 ist ein Jahr, in dem die Weichen gestellt, umgestellt werden, man weiß aber nicht genau, ob der Zug auf Frieden zuläuft oder aber auf Krieg.

Es bleibt aber lange unklar, welche Seite sich durchsetzt.

Es bleibt eigentlich bis zum späten Juli unklar, denn in Berlin geht man davon aus, dass die Österreicher eine schnelle Operation gegen Belgrad führen. Kaiser Wilhelm geht davon aus, dass die Russen Königsmörder nicht decken werden. Eine schnelle Operation bekommen die Österreicher nicht hin, aus Gründen, die man eigentlich in Berlin hätte wissen können: Das Gros der österreichischen Armee ist im Sommer auf Ernteurlaub und nicht einsetzbar. Als dann Ende Juli, einen Monat nach dem Attentat, die Österreicher anfangen, sich militärisch zu bewegen, besteht eine andere Situation, bestehen andere Konstellationen als Anfang Juli.

Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte in einer Depesche an den deutschen Botschafter in Wien Ende Juli 1914, man könne sich von Wien nicht leichtfertig in einen Weltbrand hineinziehen lassen.

Ja, er sagt, die Österreicher sollen doch mit den Russen verhandeln. Aber nun sind bereits die Weichen gestellt durch die Abfolge der Mobilmachung, und die Politik bekommt die Geister, die sie gerufen hat, nicht mehr in die Flasche hinein.

Im Sommer 1914 sind alle kriegsbegeistert, diesen Eindruck kann man bekommen, wenn man an altes Bildmaterial denkt oder an Künstler, die sich freiwillig zum Kriegsdienst melden. Wie stark war die Kriegsbegeisterung tatsächlich?

Das Augusterlebnis, die Kriegsbegeisterung ist ein ambivalenter Vorgang. Lange Zeit hieß es: Alle waren begeistert. Dann haben die Historiker angefangen zu gucken: Wie sieht das denn in den Mittelstädten, Kleinstädten, Dörfern aus, und stellten fest, dass die Menschen gar nicht begeistert sind. Anfang August finden keine Umzüge statt, ja, die Menschen befinden sich eher in einer Art Schockstarre. In Tagebüchern aber liest man von einer Augustbegeisterung, die die Menschen gar nicht in der Situation erfahren haben. Man adoptierte sie also gleichsam.

Wie erklären Sie sich das?

Der deutsche Opferbegriff enthält beides: die heroische Bereitschaft, sich zu opfern, die rettende Tat. Sakrifizium auf der einen Seite und Victima, das Ausgeliefertsein an ein unbeherrschbares Geschehen, auf der anderen Seite. In den mittleren Städten bis hin zu den Dörfern fühlt man sich Anfang August viktim: Da ist fern in der Hauptstadt etwas passiert, und jetzt muss man die Pferde und Knechte abgeben, die Söhne gehen an die Front – und wie soll das hier alles überhaupt funktionieren. Aber in so einer viktimen Grundstimmung hält man es ja nicht lange aus. Und da gibt es sozusagen das Angebot des Sakrifiziellen, nämlich: Wir werden Opfer bringen, aber wir werden daraus zum Gestalter unserer Geschichte werden. Insofern ist es naheliegend, dass nach einiger Zeit aus dieser Schockstarre erwachend man umstellt auf die Vorstellung: Wir werden für das Vaterland einstehen, und wir werden diesen Krieg gewinnen.

Kommen wir zum Thema "Schuld". Der Schuldige hatte zu zahlen, das ist nun vorbei.

Die Bundesrepublik hat im Jahr 2010 die letzte Rate aus den Versailler Reparationserfordernissen an Frankreich überwiesen. Insofern sind die Schulden weg, also müssen wir jetzt auch nicht mehr über Schuld reden als eine Form der Lernblockade, sondern können über das sprechen, was wirklich wichtig ist, nämlich Verantwortung und wer verantwortet was. Damit will ich die Deutschen überhaupt nicht freisprechen. Aber ich will in den Blick fassen, dass auch andere Länder einen ordentlichen Teil Verantwortung tragen – die Franzosen mit Poincaré, die Russen mit ihrer Expansionspolitik auf dem Balkan und im Raum des Osmanischen Reiches. Und sicherlich auch die Österreicher, die auf der einen Seite ängstlich waren und auf der anderen Seite forsch mit dem Feuer gespielt haben.

 

Herfried Münkler: „Der große Krieg“,rowohlt-Verlag, 928 Seiten,30,80 Euro.

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