16 Tage gegen Gewalt an Frauen: „Wir brauchen mehr Männer, die sich engagieren“
Karin Raab, Geschäftsführerin des Frauenhaus Linz, über die Gewaltspirale, ein Machtungleichgewicht in der Gesellschaft und warum es mehr Männer braucht, die sich engagieren.
Über ein Drittel aller Frauen in Österreich war schon einmal von Gewalt betroffen. Das zeigt eine am Montag in Brüssel veröffentlichte EU-Umfrage zu geschlechterspezifischer Gewalt. Der Gedenktag für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen am 25. November war Startschuss für die internationale Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“. Bis zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember beleuchtet sie die verschiedenen Ausprägungen von Gewalt.
OÖNachrichten: Frau Raab, jede dritte Frau in Österreich hat Gewalterfahrungen, das ist eine durchaus erschreckende Zahl. Wir wissen aber auch: Gewalt hat viele Gesichter. Welche Formen gibt es?
Karin Raab: Wir im Frauenhaus unterscheiden grundsätzlich zwischen vier Formen der Gewalt: psychisch, körperlich, ökonomisch und sexualisiert. Dann gibt es noch eine fünfte Form, die strukturelle Gewalt. Da sind wir aber schon im gesellschaftlichen Bereich, wo es eine Ungleichbehandlung gibt. Also da, wo eine strukturelle Benachteiligung von Frauen besteht.
Wo werden Frauen am häufigsten Opfer von Gewalt?
Am häufigsten betroffen von Gewalt sind Frauen tatsächlich in den eigenen vier Wänden. Das macht die Sache für mich besonders dramatisch, weil ein Zuhause ja eigentlich ein sicherer Ort des Wohlfühlens sein soll. Dort sind in vielen Fällen auch Kinder beteiligt. Ausgeübt wird die Gewalt da am häufigsten von Intimpartnern, (Ex-)Ehemännern oder nahen Familienangehörigen.
Sie im Frauenhaus sind Anlaufstelle für betroffene Frauen. Bitte führen Sie uns einmal durch: Wie läuft das ab, wenn eine Frau zu Ihnen kommt?
Da gibt es zwei verschiedene Wege. Der erste ist, dass Frauen selbst von uns erfahren, zum Beispiel über das Gewaltschutzzentrum, über unterschiedliche Beratungsstellen, über Polizei, Sozialarbeiter:innen in Krankenhäusern, über Bekannte, oder auch über Medien – darum ist es sehr wertvoll, dass wir heute miteinander sprechen. Wir sind für die Frauen vorrangig per Telefon erreichbar. Das liegt daran, dass wir eine Schutzadresse haben, die ist geheim. Im ersten telefonischen Gespräch wird dann einmal eine Gefahreneinschätzung gemacht, die Situation abgeklärt, und dann laden wir die Frauen zu uns ein. Dann wird ein Einzugstermin festgelegt. Sollten bis zu diesem Termin aber weitere Gewalttaten passieren, kann über eine Akutaufnahme gesprochen werden.
Da sind wir schon beim zweiten Szenario. Wir sind 24 Stunden erreichbar, das heißt, wenn eine Notsituation besteht, kann eine Frau ad hoc aufgenommen werden. Das passiert teilweise auch über die Polizei und oft sehr schnell. Da stehen Frauen wirklich nur mit ihrer Handtasche vor uns. Wir versorgen die Frauen dann mit dem Nötigsten, also mit Lebensmitteln, Kleidung, und so weiter. Gemeinsam besprechen wir dann in Ruhe, wie es jetzt weitergeht.
Ist da teilweise auch akute medizinische Versorgung notwendig?
Das ist teilweise der Fall, wenn eine Frau wirklich über die Polizei an uns vermittelt wird, wo teils offensichtliche Verletzungen vorliegen. Da folgt natürlich so rasch wie möglich eine medizinische Abklärung. Wir begleiten die Frauen häufig ins Krankenhaus.
Dem Tag, an dem eine Frau zu Ihnen kommt, geht ja sicherlich in vielen Fällen schon eine lange Vorgeschichte voraus. Was hindert Frauen oft so lange daran, sich Hilfe zu suchen?
Da gibt es mehrere Ursachen. Das eine ist sicher die sogenannte Gewaltspirale. In der Regel beginnt Gewalt ja schleichend. Die Frau hat ihren Partner wahrscheinlich einmal geliebt, die tatsächlichen Übergriffe passieren dann leise: Oft fängt es mit einer Isolierung der Frau an. Also der Mann möchte seine Partnerin nur für sich selbst beanspruchen, sie vernachlässigt in weiterer Folge Freunde und Familie. Das mag sich am Anfang noch gar nicht ungewöhnlich anfühlen, aber zunehmend wird so was wie ein Besitzanspruch spürbar. Das kann zu den ersten Streitereien führen. Da beobachten wir gerade in den anfänglichen Phasen noch sehr viel Reue beim Partner. Es folgen Entschuldigungen, danach ist wieder alles „rosarot“. Unterschwellig werden aber da schon Vorwürfe vermittelt, wie „Aber du hättest ja nicht so lange wegbleiben müssen“, oder „Du hast diesem Kellner schon schöne Augen gemacht“. Solche Fälle werden plötzlich immer häufiger, die Kontrolle wird immer stärker ausgeweitet. Irgendwann kommt dann vielleicht physische Gewalt dazu. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Das ist also ein langer Prozess, wo die Frau die zwei Gesichter des Mannes noch gar nicht richtig miteinander in Verbindung bringen kann.
Inwiefern spielt auch Scham eine Rolle?
Die spielt eine große Rolle. Wir reden hier nach wie vor von einem Tabuthema in der Gesellschaft. Noch dazu muss man sagen, das passiert nicht nur Frauen in einer sozialen Unterschicht. Das passiert durchaus selbstbewussten Frauen. Es ist extrem schwierig, sich selbst als Opfer anzuerkennen, dem Ganzen einen Namen geben zu können. Gerade die psychische Gewalt ist oft sehr manipulierend. Man traut den eigenen Empfindungen nicht mehr. Ganz wichtig ist dann ein Korrektiv von außen, Menschen die bestätigen: Das ist nicht normal.
Für viele Frauen ist auch die finanzielle Abhängigkeit ein Grund, warum sie in gewalttätigen Beziehungen bleiben. Wie unterstützt das Frauenhaus in solchen Situationen?
Die existenzielle Sicherung ist neben dem Schutz der Frau ganz wesentlich für uns im Frauenhaus. Das heißt wir beginnen einmal mit den ganz grundlegenden Dingen: ein eigenes Konto, finanzielle Unterstützungen wie Familienbeihilfe, Sozialhilfe, und so weiter. Wichtig ist einmal die grundlegende Absicherung, gerade wenn Frauen nicht arbeitstätig waren. Da gibt es auch eine Initiative vom Gewaltschutzzentrum „Perspektive Arbeit“, die bei der Arbeitssuche unterstützt. Wir haben auch viele Spenderinnen und Spender, die Frauen dabei helfen, einmal die erste Miete zu bezahlen. Und dann ist natürlich allgemein wichtig ein leistbarer Wohnraum für die Frauen – an dieser Stelle übrigens durchaus eine Forderung an die Politik.
Als jemand, der tagtäglich mit gewaltbetroffenen Frauen in Berührung kommt: Wie entwickelt sich aus Ihrer Sicht die Situation? Nimmt Gewalt eher ab oder zu?
Das ist vor allem deswegen schwer zu beurteilen, weil sich die Frage stellt, ob gestiegene Gewaltzahlen tatsächlich ein Zeichen für mehr Gewalt sind, oder ein Zeichen dafür, dass Bewusstseinsarbeit wirkt – sprich, dass mehr Frauen auf sich aufmerksam machen. Was ich aber schon beobachte ist, dass die Gewalt heftiger wird. Zum zweiten bereitet mir die wirtschaftliche Entwicklung Sorge. Denn die führt in vielen Familien zu einer Abwärtsspirale: Männer, die arbeitslos und in einer existenziellen Notsituation sind, greifen verstärkt zu Alkohol, werden gewaltanfälliger. Das hat man ja auch während der Corona-Pandemie gesehen. Wenn der Druck auf Familien steigt, sind es oft die Frauen, die den Spannungsabbau ertragen müssen. Leider oft in Form von Gewalt.
Zusätzlich spielen in Familien natürlich oft noch die ganz klassischen Rollenbilder mit.
Richtig, die Care-Arbeit liegt immer noch überwiegend bei den Frauen. Die Quote der Männer, die in Karenz gehen oder zumindest zeitweise die Kinderbetreuung übernehmen, ist noch verschwindend gering. Aus meiner Sicht stagniert das massiv, oder ist sogar rückläufig.
Sind das Mitgründe, warum Frauen immer noch Hauptzielscheibe von Gewalt sind?
Gewalt hat immer zu tun mit einem Machtungleichgewicht in der Gesellschaft. Da ist die Macht in ökonomischer Hinsicht. Es ist auf der anderen Seite eine kräftemäßige Überlegenheit. Und was ich ganz stark beobachte ist immer noch dieses Besitzdenken bei den Männern, nach dem Motto „Das ist meine Frau, ich kann über sie verfügen“.
Sie haben anfangs schon erwähnt: Männer sind nach wie vor meist Täter. Das heißt, Gewalt geht in eine Richtung, vom Mann gegen die Frau. Trotzdem setzt Präventionsarbeit aber überwiegend bei der Frau an – etwa durch Selbstverteidigungskurse oder Schulungen zur Gewaltprävention. Ist es gerecht, dass die Arbeit bei den Frauen liegt?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, und es braucht Männer wie Frauen dafür, es in Angriff zu nehmen. Wir haben ja selbst Präventionsprojekte, da gibt es zum Beispiel den Nachbarschaftstisch. Und da merkt man ganz stark: Männer horchen auf Männer. Wenn da ein Mann Haltung zeigt und sich ganz klar gegen Gewalt an Frauen ausspricht, das hat eine enorme Wirkung. Darum ist es so wichtig, dass sich auch Männer aktiv engagieren. Ob das im Freundeskreis ist, wo man sexistische Witze zurückweist, oder im Familienleben, wo man die Rollenverteilung einmal neu hinterfragt: Männer haben Jahrtausende lang von patriarchalischen Strukturen profitiert, jetzt braucht es von ihnen dementsprechende Verantwortung.
Strukturen zugunsten des Frauenschutzes zu ändern ist, wie Sie schon gesagt haben, ein gesellschaftliches Thema. Was wünschen Sie sich aber von der Politik?
Es braucht in allen Bereichen mehr Verständnis. In der Bildungspolitik beispielsweise muss frühzeitig mit Präventionsarbeit begonnen werden, klassische und veraltete Rollenbilder müssen aufgebrochen werden. In der Justiz und auch bei der Polizei braucht es eine weitere Sensibilisierung: Was bedeutet Gewalt? Was sind ihre Dynamiken? Die Verurteilungsrate ist in Österreich ja noch relativ gering, da braucht es Gewaltschutzambulanzen, wo wirklich forensisch Beweise gesichert werden können. Es braucht eine Finanzierung von Präventionsprojekten, weitere Bewusstseinsbildung in der Zivilgesellschaft. Für die Frauen braucht es dann Perspektiven, ein „Leben danach“, und da gehören ganz klar leistbarer Wohnraum und Kinderbetreuung dazu, um sich aus Abhängigkeitsverhältnissen lösen zu können.
OÖNachrichten: Frau Raab, vielen Dank für das Gespräch.
Karin Raab: Danke.
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