85. Hahnenkammrennen: Kitzbühel und der ganz normale Wahnsinn
KITZBÜHEL. Am Montag beginnt in Kitzbühel die 85. Hahnenkamm-Woche. Das offizielle Veranstaltungsplakat zeigt eine düstere Schwarz-Weiß-Malerei und ist damit ein schräger Kontrast zum Ski-Halligalli, das sich in den nächsten Tagen in der Gamsstadt abspielen wird. Gezeichnet hat es der Tiroler Künstler "Golif". Es könnte fast von mir sein.
Kitzbühel vor einer Woche, der touristische Hotspot befindet sich im sogenannten Jännerloch, der Cool-down-Phase zwischen den Weihnachtsferien und dem Hahnenkamm-Rennwochenende. Früher verwandelten finanzkräftige Gäste aus Russland dieses Loch in eine Zwischensaison. Seit dem Krieg gegen die Ukraine haben sie in Kitzbühel den Rückzug angetreten. Während auf der Streif bereits die Vorarbeiten für die 85. Hahnenkammrennen laufen, herrscht unten in der Stadt die Ruhe vor dem Sturm.
Die lokale Heimatbühne spielt gerade "Deifi Sparifankerl", einen "höllisch heiteren Schwank" – passt eh nicht schlecht zu den höllisch heiteren Skirennen. Gesprächsthema bei den Einheimischen ist weniger das Schwächeln des österreichischen Abfahrtsteams um Leitwolf Vincent Kriechmayr, sondern das neue Kitzbühel-Logo. Im Zuge des Re-Designs verlor die von Maler Alfons Walde entworfene Gams im Schriftzug der Stadt ihren Unterleib. Die Aufregung ist groß, die Petition der ehemaligen Tourismusobfrau Signe Reisch mit der Forderung "Wir wollen die originale Kitzbüheler Gams zurück" unterschrieben neben Ski-Kaiser Franz Klammer mehr als viertausend Menschen. Der neue Tourismusobmann Christian Harisch blieb trotzdem, was das Styling seiner neuen Gams betrifft, ein sturer Bock.
Die Party-Hotspots wie "The Londoner", "Jimmy’s", "Take Five" oder "O’Flannigans" magazinieren gerade ihre Lagerbestände auf, um für den Ansturm der feierwütigen Schaulustigen am kommenden Wochenende gerüstet zu sein. Nur dort, wo das Basislager von Reich & Schön gestanden ist, klafft ein Loch. Die Kitzbüheler Tenne, jahrzehntelang ein Promi-Treffpunkt, wurde im Herbst 2024 abgerissen. Die Münchner Hoteliersfamilie Volkhardt ("Bayerischer Hof") hat vor drei Jahren den noblen Laden um kolportierte 45 Millionen Euro an die norddeutsche Hoteliersfamilie Dohle ("Vier Jahreszeiten", Hamburg) vercheckt. 2027 soll das Fünf-Sterne-Haus mitten in Kitzbühel wieder neu aufgestellt sein. Dass für den Neubau noch einmal gut 150 Millionen investiert werden müssen, soll der Familie Dohle ein erstauntes "Hoppala" entrissen haben. Mehr nicht.
Mehr Drama als Triumph
Beim Vorbeischlendern an der Tenne, die jetzt nicht mehr da ist und im Kitzbüheler Altstadt-Ensemble eine Zahnlücke in einem sonst makellosen Gebiss hinterlassen hat, wandern die Gedanken zurück in meine Kitzbühel-Vergangenheit, die gut 30 Jahre zurückreicht. Jetzt kann ich es ja zugeben: Die sportjournalistischen Dienstreisen zu den Hahnenkammrennen waren für mich Jahr für Jahr eher eine Bauchwehpartie. Das schwarz-weiß-düstere Plakat des Künstlers "Golif" trifft daher sehr gut die Hahnenkamm-Selbsterfahrung. Im Rückspiegel zeigen sich mehr Dramen als Triumphe, außerdem gab es bei der Heimreise vom Ski-Spektakel stets ein großes Fragezeichen als Beifahrer: Steht hier wirklich der Sport im Vordergrund, oder ist das Hahnenkamm-Wochenende nur ein Schicki-Micki-Treffen und ein rauschend-rauschiges Volksfest mit drei Skirennen im Rahmenprogramm?
Bildergalerie: Kitzbühel-Rundgang
Galerie ansehenAls Corona-bedingt im Jänner 2021 die Streifsause ohne Publikum und Weißwurstparty stattfinden musste, gab es diesbezüglich eine Klarstellung von Vincent Kriechmayr. "Normalerweise sind wir hier Statisten und zur Belustigung der Promis da, heuer ist das halt einmal anders", meinte der Mühlviertler, um kurz darauf – praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit – den Super-G zu gewinnen.
Zurück zur Tenne: Die Audi-Night habe ich dort 2003 als VIP-Gast erleben dürfen – im Modus des Motor-Journalisten. Das Wort "Compliance" war noch nicht erfunden, Kitz-Sponsor Audi hatte für die Medien ein winterliches Fahrtraining inklusive VIP-Nacht in der Tenne angeboten. Mein Tischnachbar Otto Konrad war spürbar übel gelaunt, weil er nicht bei den A-Promis Beckenbauer oder Schwarzenegger positioniert war, sondern quasi im Niemandsland der No-Names sitzen musste. Erst als ich dem ehemaligen Salzburg-Tormann erzählte, dass mir sein kurioses Kopfballtor zum 1:1 in der Nachspielzeit gegen den damaligen FC Keli Linz im Herbst 1994 noch in Erinnerung ist, hat sich seine Laune etwas gebessert.
Das VIP-Ticket hat in Kitzbühel im Laufe der Jahre die Medien-Akkreditierung in Sachen Bedeutung überholt. Gerade die Vertreter der schreibenden Presse wurden immer mehr ins Seitenout gedrängt. Der Kampf um Wortspenden in der engen Mixed-Zone im Zielraum ist mühsam und frustrierend, weil man ohnehin nur noch mit Worthülsen abgespeist wird. Vielsagend ist hingegen das Schweigen, wenn schlimme Stürze eine allgemeine Bestürzung hervorrufen. Zu viele Karrieren haben auf der Kitzbüheler Streif ein fatales Ende gefunden.
Als Scott Macartney 2008 an seinem 30. Geburtstag ohne Bewusstsein nach einem Sturz beim Zielsprung vor die bummvolle Tribünen rutschte, wusste niemand, ob der US-Amerikaner überleben wird (er hat). Die Show ging natürlich genauso weiter wie ein Jahr später, als der Zielsprung im Training Daniel Albrecht zum Verhängnis wurde. Der Schweizer erlitt wie Macartney ein Schädel-Hirn-Trauma und erwachte erst drei Wochen nach seinem Sturz aus dem Koma. Kollege Marcel Perren vom Schweizer Blick, an sich mit der emotionalen Firewall eines Boulevard-Journalisten ausgestattet, wurde nach dem Sturz seines Landsmannes von Weinkrämpfen gebeutelt. Der Rest des Medien-Zentrums im Kitzbüheler Kongresszentrum übte sich in stummer Betroffenheit.
Zwei Jahre später wurde es wieder still, als Hans Grugger beim Sprung über die Mausefalle die Balance verlor und unten einschlug wie ein Meteor. Während der heutige Lehrer der Sportmittelschule Ebensee mit einem Schädel-Hirn-Trauma auf der Intensivstation in Innsbruck dahindämmerte, musste sich am Abend beim Stanglwirt im nahen Going Hannes Trinkl zehn Jahre nach seinem Abfahrts-WM-Titel feiern lassen. Die Sponsoren des bodenständigen Oberösterreichers wollten das so. Er selbst machte gute Miene zum schrägen Spiel. Wohl wissend, dass es in Kitzbühel zur absurden Normalität gehört, dass das Pendel zwischen Intensivstation und Party-Alarm ausschlagen kann.
Ein fast legaler Abflug
Erbauliche Kitzbühel-Erlebnisse abseits von der Tempobolzerei in der Fall-Linie gab es natürlich auch. Die abendlichen Skitouren hinauf zur Seidlalm beziehungsweise Bergstation der Hahnenkammbahn waren wohl die beste Methode, Schritt für Schritt einen Abstand zum ganz normalen Wahnsinn in der Gamsstadt zu gewinnen. Die Selbsterfahrung im Rutschkommando des damaligen Pistenchefs und Extremskifahrers Alex Naglich war eine unvergessliche Grenzerfahrung. Wer einmal die Eiswelten einer rennfertig präparierten Weltcup-Piste mit stumpfen Stahlkanten besucht hat, weiß, was ich meine.
Vor drei Jahren erfüllte ich mir mit einem nicht ganz legalen Gleitschirmflug vom Hahnenkamm hinunter nach Kitzbühel einen lang gehegten Lausbubentraum. "Woast nit, Dammischer, dass då jetzt a Flugverbot isch?", machte sich nach meiner Landung ein herbeigeeilter Anstandswauwau wichtig. Nach meiner – zugegeben wenig überzeugenden – Rechtfertigung ("Des håt mir kana g’sågt") bellte er: "Lesen kånnst leicht a nit? Påck di zåm’ und schau, dass d’ weiterkummst!" Das hab ich gemacht. Pfiat di, Kitzbühel.