"Haben noch eine Menge Arbeit vor uns"
OÖN-Interview mit Bryan Stevenson zu Bürgerrechten in den USA 50 Jahre nach dem Mord an Martin Luther King.
Bryan Stevenson (58) gründete in Montgomery, Alabama, das "Equal Justice Institute". Der Rechtsprofessor an der New York University School of Law stand mit seinem Buch "Just Mercy" über die Schieflagen im Strafrecht monatelang auf den Bestseller-Listen. Er zählt zu den profiliertesten US-Bürgerrechtlern. OÖN-Korrespondent Thomas J. Spang sprach mit ihm über die Bürgerrechte 50 Jahre nach dem Mord an Martin Luther King.
- Herr Stevenson, wie erinnern Sie sich an die Tage nach dem Anschlag auf Martin Luther King?
Ich war noch ein kleiner Bub. Der Mord löste eine Krise in unserer Gemeinde und Familie aus. Es war ein Schock. Die Person, die das Gesicht und die Kraft hinter der Bürgerrechtsbewegung war, lebte nicht mehr. King inspirierte mich schon damals. In der Highschool habe ich seine Reden auswendig gelernt. Ich wollte die Dinge so geschliffen sagen können wie er. - Was bewunderten Sie?
Sein strategisches Denken. King wählte Orte wie Selma und Birmingham mit Bedacht aus, weil die Sheriffs dort hasserfüllte Rassisten waren. Er wusste, dass er mit gewaltfreiem Zeugnis auf gewalttätige Brutalität stoßen würde. Damit entstanden Symbole, die Menschen vor eine klare moralische Wahl stellten. - Wie nachhaltig sind die Errungenschaften Dr. Kings?
Sein vorzeitiger Tod hat viele Dinge zerfallen lassen. Er hatte im Dezember 1967 damit begonnen, seine Kampagne für die Armen zu organisieren. Er predigte soziale Gerechtigkeit und sprach sich gegen den Vietnamkrieg aus. King hatte eine moralische Vision, die an die ganze Nation gerichtet war. Sein Tod hat die Kampagne gestoppt, weil es keine Infrastruktur gab, um sie aufrechtzuerhalten. - Was bedeutet das für das ethnische Verhältnis in den USA heute?
Trotz der rechtlichen Erfolge hat es King zu seiner Lebenszeit nicht geschafft, das rassistische Erbe des Landes abzuschütteln. Wir haben Sklaverei, Lynchmorde und Genozid nicht aufgearbeitet. Deshalb belastet uns die ethnische Ungleichheit weiter. Es ist eine Art Smog, den wir einatmen. Deshalb glauben wir immer noch, dass schwarze und braune Menschen gefährlich und schuldig seien. Wir haben Sklaverei und Zwangsarbeit abgeschafft, aber die dahinterstehende Ideologie nicht beseitigt. - Wäre eine Entschuldigung für die Sklaverei hilfreich?
Es fehlt das Bewusstsein darüber, dass alles, was wir über die Unterschiedlichkeit von Schwarzen und Weißen gesagt haben, eine Lüge ist. Deshalb denke ich, dass die Sklaverei nicht 1865 zu Ende ging, sondern sich weiter entwickelt hat. Daraus gingen rassistischer Terror und die Lynchmorde gegen Schwarze hervor.
- Wohl auch die "Jim Crow"-Gesetze, die die Diskriminierung quasi durch die Hintertür wieder eingeführt haben?
Richtig. Das alles trug zu einer der größten Flugbewegungen in der Geschichte bei. Die Schwarzen in Chicago, Cleveland, Detroit oder Los Angeles kamen anders als die Europäer nicht in diese Städte, um nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten. Sie liefen vor dem Terror davon. - Beobachten Sie mit dem Beginn der Ära Trump ein Wiederaufleben des Rassismus?
Ja, das ist eine politische Bewegung, die die Zeit zurückzudrehen versucht. Sie behauptet, es gebe keinen Grund, sich über etwas in der Geschichte zu grämen. - Lassen Sie uns über Ihre Arbeit im "Equal Justice Institute" sprechen. Vor den Wahlen sah es so aus, als gäbe es einen breiten Konsens für eine Strafrechtsreform. Was ist daraus geworden?
In den Gefängnissen der USA sitzen etwa 2,3 Millionen Menschen, zehn Prozent davon aufgrund von Urteilen der Bundesgerichte. Das heißt: Die Hauptarbeit liegt in den Bundesstaaten vor uns. Diese Arbeit geht unvermindert weiter. - Kritiker wie Michael Alexander, aber auch Sie beobachten nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung einen Rückschlag, den Sie als neue "Jim Crow"-Ära bezeichnen. Was meinen Sie damit?
Nach einer Schätzung des Justizministeriums wird eines von drei schwarzen Babys, die heute in den USA zur Welt kommen, Zeit im Gefängnis verbringen. Das war nicht so, als ich geboren wurde. Die Konsequenzen sind heute schon gravierend. Ein Viertel aller schwarzen Männer dürfen wegen ihrer Vorstrafen dauerhaft nicht mehr wählen. Wir haben Kinder, die in Nachbarschaften groß werden, wo 80 Prozent im Gefängnis landen. Wenn Sie die Polizeigewalt und die fortwirkende Diskriminierung nach Verbüßung von Strafen hinzunehmen, können Sie die Konsequenzen erahnen. So wird eine dauerhafte Unterklasse geschaffen. - Sind die Debatten rund um den 50. Todestag Martin Luther Kings auch eine Chance?
Es gibt die Möglichkeit, die Menschen dazu zu bewegen, ehrlicher über ihre Geschichte nachzudenken. Wir können neue Narrative schaffen, um die wir uns sammeln. Es gab weiße Amerikaner aus dem Süden, die die Sklaverei beenden wollten, die gegen die Lynchmorde waren und an Integration glauben. Die meisten Leute wissen, wer das war. Wir sollten Schulen nach diesen Personen benennen. Wenn wir aber stattdessen unsere Identität auf dem Wunsch gründen, andere wegen ihrer Rasse zu versklaven, oder wenn unsere Identität auf dem Widerstand gegen Integration und Toleranz oder auf rassistischem Terrorismus gründet, dann haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns.
Martin Luther King
Heute vor 50 Jahren wurde Martin Luther King ermordet. Er gilt als einer der herausragenden Vertreter im Kampf gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit und war zwischen Mitte der 1950er- und Mitte der 1960er-Jahre der bekannteste Sprecher des Civil Rights Movement, der US-Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner. Martin Luther King propagierte den zivilen Ungehorsam als Mittel gegen die politische Praxis der Rassentrennung. 1964 erhielt er den Friedensnobelpreis.
Das Attentat auf Martin Luther King in Memphis
Das tödliche Attentat auf Martin Luther King Jr. ereignete sich in Memphis (Tennessee). King hatte sich entschlossen, angesichts des anstehenden Poor People’s March zuerst dort zu demonstrieren und sich für die (soziale) Gleichberechtigung aller amerikanischen Bürger schwarzer Hautfarbe einzusetzen.
Am 3. April 1968 sagte er in seiner Rede „I’ve been to the mountaintop“, dass er das Gelobte Land gesehen habe. Viele deuteten das als Todesahnung.
Am 4. April um 18.01 Uhr wurde King auf dem Balkon des Lorraine Motels erschossen. In einem Raum gegenüber dem Motel fand man die Waffe, mit der der Schuss abgegeben worden war. Auf ihr fand man zwei Fingerabdrücke des mehrfach vorbestraften James Earl Ray, eines im April 1967 entflohenen Häftlings, der offen rassistische Ansichten vertreten haben soll.
Nach zweimonatiger Flucht wurde Ray in London verhaftet. Er gestand und wurde unter Berücksichtigung seines Geständnisses zu 99 Jahren Haft verurteilt. Wenige Tage später widerrief Ray sein Geständnis.
Seit dem Attentat verstummten nie die Gerüchte über eine Verschwörung, in die die US-amerikanische Regierung verstrickt gewesen sein soll.
"Der Marsch geht weiter"
Auch heute ist der Rassismus immer noch Teil des Alltags. Eine Reportage von OÖN-Korrespondent Thomas Spang aus Memphis.